Sturm über Sylt
auf. Ihre Sorge um das Kind war nun weitaus größer als die Angst vor dem Hund und die Angst vor sämtlichen Konsequenzen. Mit großen Schritten hetzte sie zu der Treppe, auf deren oberster Stufe der Säugling lag und nun ganz still war. Schrecklich still.
Der Hund erschrak, kniff den Schwanz ein und lief jaulend auf das Loch in der Hecke zu. So voller Angst war er, dass er länger brauchte als vorher, bis er sich blindlings durch das Loch gedrängt hatte. Es knirschte und knackte, anscheinend hatte er in seiner Furcht vor Aletta das Loch weiter aufgebrochen.
Aletta zögerte nun nicht mehr. Sie hob das Kind, das in eine warme Decke gewickelt war, von der Stufe. Es schlief nicht, hatte die Augen geöffnet, das war trotz der Dunkelheit zu erkennen, und sah Aletta an. Forschend, wie ihr schien, und fragend. Als sie das Kind an sich drückte, hörte und fühlte sie ein Knistern an ihrer Brust. Sie setzte sich auf die untere Treppenstufe, legte den Säugling auf ihren Schoß und griff in die Decke. Sie bekam einen Zettel zu fassen und hielt ihn so, dass er vom Mond beschienen wurde. »Ich heiße Sönke. Bitte, seid gut zu mir!«
III.
Die Nachricht kam, kaum dass sie erwacht waren und sich erhoben hatten. Es klopfte leise an der Zimmertür, Ludwig warf sich seinen Morgenmantel über und ging öffnen. Ein Page stand vor der Tür und überreichte ihm einen Zettel. »Mit den verbindlichsten Grüßen vom Herrn Direktor.«
Ludwig warf nur einen kurzen Blick darauf, dann ging er zu Aletta, die ihm ängstlich entgegensah. Wortlos zog er sie in seine Arme, und sie wusste sofort, was geschehen war. Während sie geschlafen hatte! Während sie sich an Ludwigs Seite geschmiegt hatte! Während sie sich in seinen Armen sicher gefühlt hatte! Und sicher in ihrer Heimat, die sie wiedergefunden zu haben schien! »Letzte Nacht? Ausgerechnet letzte Nacht?«
Ludwig wiegte sie wie ein kleines Kind, dem nicht mit Trost und Beschönigungen beizukommen war, ließ sie weinen, streichelte ihren Rücken und schob sie erst zu einem Sessel, als sie ihren Kopf von seiner Brust nahm und nach einem Taschentuch suchen wollte. Er holte eines seiner Taschentücher und sagte, während sie sich die Tränen abwischte: »Sieh es so: Sie ist vielleicht gestorben, weil sie endlich loslassen konnte. Vorher hat sie der Wunsch am Leben erhalten, dich wiederzusehen. Nun konnte sie ruhig die Augen schließen und gehen. Du warst nach Sylt zurückgekehrt, alles war gut. Wärst du nicht gekommen, hätte sie womöglich noch länger leiden müssen.«
Aber Aletta schüttelte den Kopf. »Sie wollte mir etwas sagen! Etwas sehr Wichtiges! Aber sie hat es nicht mehr geschafft. Ich hätte mich nicht von Insa aus dem Haus drängen lassen dürfen.«
Zwei Stunden später hielt die Kutsche des »Miramar« in der Stephanstraße, und diesmal blieb Ludwig an Alettas Seite. Er bedeutete dem Kutscher, dass er warten solle, und ging neben Aletta auf die Haustür zu. Sie trug ein dunkles Kleid mit einer großen Passe, die mit hellen Rüschen eingefasst war. Die Ärmelbauschten sich, ein breiter Gürtel betonte die Taille und ließ sie unter dem ausladenden Oberteil noch schmaler wirken, als sie ohnehin war. Der Rock war bis zu den Knien schmal geschnitten, dort hatte der Schneider eine Rüsche mit dem quer verarbeiteten Stoff angesetzt, die bis zum Boden reichte. Alettas Hut war kreisrund, aber von geringem Durchmesser, eine große Nadel aus Silber verband ihn mit ihren hochgesteckten Haaren. Sie war elegant und auffällig gekleidet, aber dieses Kleid war wenigstens aus einem dunklen Stoff gefertigt. Wie konnte sie auch ahnen, dass sie Trauerkleidung nötig haben würde?
Ludwig war formell gekleidet, in einem dunklen Anzug, dazu trug er einen Stock mit Silberknauf und einen hellen Hut, der jedoch ein dunkles Band trug. Als er nach dem Türklopfer greifen wollte, schüttelte Aletta den Kopf und drückte die Klinke herunter, ohne zu klopfen. Die Stimmen der Feriengäste drangen aus dem Wohnzimmer, fröhlich, lachend, als wäre nichts geschehen. Aus dem Garten kam Gelächter, Kinder riefen nach einem Ball, ein Mann protestierte, er wolle seine Ruhe haben. Aletta warf einen Blick die Treppe hoch, zögerte, öffnete dann entschlossen die Küchentür, hinter der Geschirrgeklapper zu hören war. Insa stellte, als sie eintraten, gerade die Teller zusammen, von denen die Gäste gefrühstückt hatten. Ihr Kopf fuhr hoch. Man sah, dass sie geweint hatte, ihre Augen waren gerötet, ihr Blick
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