Sturm über Sylt
für diesen traurigen Tag. Unsere arme Witta! Wie gut, dass das Leiden nun ein Ende hat. Und wie gut, dass sie ihre Jüngste noch einmal sehen durfte.«
Er wartete, bis Insa eingegossen hatte und wieder auf ihrem Stuhl saß. Dann faltete er die Hände und forderte die drei zu einem Gebet auf: »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, als Mensch geboren aus der Mutter Maria, erbarme Dich Deiner Dienerin Witta Lornsen, die Du aus der Mitte ihrer Familie weggerufen hast.«
Er hob kurz den Blick und stellte fest, dass Insa die Hände ebenfalls gefaltet und die Augen geschlossen hatte, während Aletta die Hände nur locker übereinandergelegt hielt, Ludwig jedoch an seiner Haltung nichts geändert hatte und missmutig den Blick durch die Küche wandern ließ.
»Vergilt ihr alle Liebe, die sie geschenkt hat, und lass sie ihren Angehörigen nahebleiben durch die Fürbitte bei Dir. Nimm alle, die sie zurückgelassen hat, in Deinen Schutz. Der du lebst und herrschest in alle Ewigkeit. Amen.«
»Amen«, wiederholte Insa, löste die Hände und griff nach ihrer Kaffeetasse.
Auch Aletta nahm einen Schluck. »Wissen Sie schon, wann wir Mutter beerdigen können?«, fragte sie den Pfarrer.
Frerich überlegte kurz. »Übermorgen«, beschloss er dann und wandte sich an Insa: »Willst du die Mutter nicht doch hier aufbahren lassen, wo sie gelebt hat? Die Nachbarn möchten sich sicherlich gern von ihr verabschieden.«
»Das können sie auch in der Kirche«, antwortete Insa schnell.»Wie sollen die Feriengäste sich in der Nähe einer Toten erholen?«
Pfarrer Frerich seufzte, als wollte er die Veränderungen dieses modernen Lebens beklagen, in dem es wichtiger sein sollte, fremde Menschen vom Tod nichts spüren, sehen und hören zu lassen, als einen verstorbenen Angehörigen so aus seinem Leben in den Tod zu entlassen, wie es seit Generationen Sitte war. Er sah Aletta an, die tatsächlich drauf und dran war, einen Einwand zu erheben, sich dann aber entschloss, zu schweigen. Sie verbündete sich sogar mit Insa, indem sie das Thema wechselte: »Insa hat Sönke erwähnt ... Wie geht es dem Jungen?«
Pfarrer Frerich ließ sich von dem Anlass seines Besuches weglocken. »Er hat sich gut gemacht. Besonders helle ist er zwar nicht, aber sein Meister ist zufrieden mit ihm, weil er gewissenhaft und zuverlässig ist. Da macht es nichts, dass er langsam arbeitet und länger braucht, um etwas zu begreifen.«
»Er hat es im Leben nicht leicht gehabt«, stellte Aletta fest. »Mehrere Pflegestellen! Immer wurde er wieder weggeschickt. Wie sollte er sich da gut entwickeln?«
Pfarrer Frerich, der glaubte, alles für das Findelkind getan zu haben, das ihm in die Sakristei gelegt worden war, gefiel dieses Thema nicht. Er wandte sich an Ludwig, als hätte er Alettas Einwand nicht gehört. Und er schien vergessen zu wollen, dass Ludwig von seinem Gebet nicht berührt worden war, dass er es sogar verweigert hatte. »Was halten Sie von den Ereignissen in Sarajewo, mein lieber Herr Burger?«, fragte er. »Müssen wir uns Sorgen machen?«
»Natürlich müssen wir das«, gab Ludwig zurück. »Der Krieg scheint mir unausweichlich.«
Pfarrer Frerich faltete die Hände über seinem dicken Bauch. »Bismarcks Idee von der Aufrechterhaltung ungleicher Machtverhältnisse war besser.«
Ludwig stimmte sofort zu. »Das prekäre Gleichgewicht unter den Großmächten ist das Problem. Bismarck konnte das Verhältniszwischen Österreich-Ungarn und Russland kontrollieren und andererseits Frankreich diplomatisch isolieren. Damit hat er den Frieden in Europa gesichert.«
Pfarrer Frerich schien erfreut, dass jemand seine Gedanken teilte. »Jetzt hat Europa zwei rivalisierende Bündnissysteme und ist dadurch in zwei Lager geteilt. Der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien und auf der anderen Seite die französisch-russische Entente.«
»Und keines der Bündnisse bietet wirklich Sicherheit.«
»Die Franzosen und die Russen wissen, dass ihr Bündnis keinen Bestand haben wird, wenn sie sich nicht gegenseitig militärisch helfen ...«
»... so wie die Deutschen Österreich-Ungarn auf dem Balkan nicht mehr allein lassen können«, ergänzte Ludwig. »Also wird es Krieg geben!«
»Und alle Machthaber haben ihr Volk hinter sich, weil jedes Land den jeweiligen Nachbarn zum Feind erklärt hat. Die Männer drängen zum Militärdienst, die finanziellen Belastungen durch die Militärapparatur finden überall Zustimmung. Sonst wäre diese gewaltige
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