Sturm über Sylt
schnitt ihren Satz ab. Ihr schwacher Körper schüttelte sich, der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Als sie wieder ruhig dalag, war sie so erschöpft, dass Aletta glaubte, sie wäre sogar zu schwach zum Atmen.
Aber ihre Stimme schaffte es erneut, ein paar Worte herauszuhauchen: »... weil ich sterbe?«
»Nein, Mutter«, antwortete Aletta. »Ich bin gekommen, um mich mit euch zu versöhnen. Ich wusste nicht, dass du krank bist. Ich wollte dir erklären, warum ich damals gehen musste. Eigentlich wollte ich es dir gestern Abend auch zeigen. Du solltest mich endlich singen hören und mir sagen, dass es falsch war, mir das Singen zu verbieten.«
Witta Lornsen machte eine winzige Bewegung mit der Hand,als wollte sie etwas wegwischen, als wollte sie keine Erklärungen hören. Und wieder nahm sie all ihre Kraft zusammen, um ein paar Worte zu formulieren. Aletta hätte sie gern gehindert, weil sie merkte, wie sehr ihre Mutter das Reden anstrengte, aber sie spürte, dass es ihr wichtig war, und brachte es nicht übers Herz, sie zu hindern.
»Gut, dass du da bist ...«, keuchte Witta Lornsen. »Dann kann ich es dir noch sagen. Du musst es wissen ... ich will es nicht mit ins Grab nehmen ...«
Ihre Stimme versagte, eine so gewaltige Schwäche legte sich über ihr Gesicht, dass Aletta plötzlich von Angst befallen wurde. Sie dachte nicht mehr daran, ihre Mutter am Sprechen zu hindern, sie wusste, dass diese etwas loswerden wollte, was ihr das Sterben leichter machte.
»Was ist es, Mutter? Was willst du mir sagen?«
Wieder nahm Witta Lornsen das letzte bisschen Kraft zusammen, die noch in ihr war, die durch das Erscheinen ihrer jüngsten Tochter geweckt worden war. »... durfte nichts sagen ... dein Vater ... aber du musst es wissen ... endlich musst du es erfahren ... es ist noch nicht zu spät ...«
Aletta schob ihr Ohr so weit wie möglich an die Lippen ihrer Mutter heran, strengte ihr Gehör an, damit das schwächer werdende Hauchen einen Sinn ergab ... da ertönte eine Stimme von der Tür her: »Was machst du da?«
Aletta fuhr in die Höhe und starrte Insa erschrocken an. »Mutter möchte mir etwas sagen.«
Insa trat hinter sie, dann schob sie Aletta beiseite und beugte sich bestürzt über ihre Mutter. »Was hast du mit ihr gemacht?«
»Gar nichts«, entgegnete Aletta ängstlich. »Sie hat gesagt, ich müsse etwas wissen. Und sie wolle es nicht mit ins Grab nehmen.«
»Ich hatte dir gesagt, du sollst morgen wiederkommen.«
»Sie ist auch meine Mutter. Ich will mich nicht wegschicken lassen.«
Witta Lornsen öffnete wieder die Augen, sah nun ihre älteste Tochter vor sich. Ihr Blick irrte herum, als wollte sie wissen, ob sie Aletta wirklich gesehen hatte oder ob es nur ein Trugbild gewesen war, ob ihr nur die Sehnsucht nach Aletta ihr Bild vor Augen geführt hatte.
Aletta machte einen Schritt vor. »Ich bin noch da, Mutter. Was willst du mir sagen?«
Insa schob sie mit dem rechten Ellbogen zur Seite. »Sie ist zu schwach. Lass sie in Frieden von uns gehen.«
»Aber sie will mir etwas sagen«, beharrte Aletta und spürte, dass ihr die Tränen kamen.
Insa drehte sich nun zu ihr um und drängte sie energisch zur Tür. »Kaum bist du hier, geht es Mutter schlechter. Siehst du das nicht? Wenn sie jetzt stirbt, bist du schuld!« Sie trieb Aletta nun vor sich her aus dem Zimmer. »Geh! Du passt nicht mehr hierher.«
Sie hatte gewartet, bis alles im Hause ruhig war. Die Eltern schliefen, und auch Insa, die gern länger aufblieb als alle anderen, hatte sich zur Ruhe begeben. Wenn Aletta sich weit aus ihrem Fenster beugte, konnte sie erkennen, ob die Lichter im Schlafzimmer ihrer Eltern und in Insas Zimmer gelöscht waren. Erst als das geschehen war, zog sie sich wieder an.
Leider ließ sich die Tür ihrer kleinen Kammer nicht geräuschlos öffnen. Die Klinke quietschte, die Tür knarrte. Aletta wartete mit klopfendem Herzen, bis sie sicher sein konnte, dass niemand aufgeschreckt worden war, dann erst schlich sie die Treppe hinab. Das schaffte sie, ohne den geringsten Laut zu verursachen. Sie hatte es zwei Tage lang unauffällig geübt. Die beiden oberen Stufen knarrten, aber wenn sie den Fuß direkt neben der Wand aufsetzte, war nichts zu hören. Dann kamen drei Stufen, die risikolos waren, auf den letzten musste sie darauf achten, den Fuß sehr behutsam aufzusetzen, und die unterste Stufe berührte sie am besten gar nicht.
Am Fuß der Treppe blieb sie stehen und lauschte. Noch brauchte sie sich keine Sorgen zu
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