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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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machen. Wenn sie hier erwischt wurde, konnte sie behaupten, das Holzhaus im Garten aufsuchen zu wollen, in dessen Tür der Vater ein Herz geschnitzt hatte. In dem Moment aber, in dem sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte, durfte nichts mehr passieren. Von da an konnte sie nicht erklären, warum sie aufgestanden war und das Haus verlassen hatte. Natürlich musste sie sich auch vor den Nachbarn in Acht nehmen. Wer sie sah, würde es den Eltern berichten, und für diesen Fall gab es keinen plausiblen Grund, den sie anführen konnte. Was hatte eine Zehnjährige des Nachts auf der Straße zu suchen?
    Der Weg nach St. Niels war zum Glück nicht weit. Sie lief bis zur Wilhelmstraße, bog in den Kirchenweg ein und kam zehn Minuten später vor dem Holzzaun an, der das Kirchengelände mitsamt dem Friedhof umschloss. Plötzlich kamen ihr Zweifel. Was sie vorhatte, war eine große Sünde. Sie würde sie beichten und Buße tun müssen. Was der Pfarrer ihr für dieses Vergehen auferlegen würde, mochte sie sich gar nicht vorstellen. Natürlich würde er vor allem verlangen, diese Tat zu büßen, indem sie rückgängig gemacht wurde. Die vielen Rosenkränze, die sie außerdem zu beten haben würde, wären nicht schlimm. Aber das Geld zurücklegen? Dann hätte sie ja gesündigt, ohne vor der Buße einen Vorteil zu erhalten!
    In diesem Moment des Zweifelns brach der Mond durch die Wolken. Ein unwirkliches Licht ergoss sich über St. Niels, grell und doch unfähig, Helligkeit zu schenken. Unter dem Mondschein schien die Dunkelheit nur noch schwärzer zu werden. Aletta bekam Angst und war drauf und dran, kehrtzumachen und unverrichteter Dinge nach Hause zurückzulaufen. Wenn sie den Plan nun aufgab, durfte sie am nächsten Morgen reinen Herzens erwachen, konnte den Eltern offen in die Augen blicken und würde dem Pfarrer nur eine Versuchung, nicht aber eine schreckliche Tat beichten müssen.
    Sie betrachtete lange ihren Schatten, der von dem Zaun zerstückelt wurde, kämpfte gegen die Angst an, nahe der Geisterstunde den Friedhof zu betreten, fand hundert Gründe, den Plan fallenzulassen und Tausende andere, ihn weiterzuverfolgen.
    Die Entscheidung fällte schließlich ein Radfahrer. Das Quietschen der Pedalen und das Klappern des Schutzblechs kratzten an der Stille und zerschnitten sie schließlich. Hastig versuchte Aletta, das Tor zu öffnen, das tagsüber immer offenstand, und stellte erschrocken fest, dass es verschlossen war. Nun war keine Zeit mehr zum Überlegen. Zum Glück war es leicht, über die Hecke zu klettern. Sie fiel gerade rechtzeitig auf der anderen Seite herab und hörte den Radfahrer ächzen, der offenbar zu viel Schnaps getrunken und Mühe hatte, in der nächsten Kurve nicht vom Rad zu fallen.
    Als das Quietschen, Klappern und Schimpfen nicht mehr zu hören waren, richtete Aletta sich auf. Und nun wusste sie, dass sie es tun würde. Vera Etzold hatte gesagt, ihre Stimme sei etwas sehr Kostbares, es wäre eine Sünde, sie nicht auszubilden. Eine Sünde gegen die andere! Wer wollte behaupten, dass die Sünde, die in dieser Nacht begangen wurde, mehr wog?
    Aletta wusste, wo der Schlüssel der Sakristei lag, und sie wusste auch, wo Pfarrer Frerich nach jedem Gottesdienst die Kollekte unterbrachte, ehe er sie am folgenden Werktag zur Bank trug. Sie hatte ihn einmal dabei beobachtet, wie er einen Blumentopf anhob und darunter den Schlüssel hervorholte. Und dass er die Kollekte im Schreibtisch der Sakristei aufbewahrte, wusste jeder. Dort schloss er sie zwar sorgfältig ein, aber seine Haushälterin hatte einmal Alettas Mutter gegenüber erwähnt, dass sie sich Sorgen mache, weil jeder Landstreicher in die Sakristei einbrechen, den Schreibtischschlüssel aus der alten Soutane nehmen und mit der Kollekte auf Nimmerwiedersehen verschwinden könne.
    Aletta verschloss die Augen vor den vielen Grabsteinen, die sie zu beobachten, zu belauern, sogar zu warnen schienen. Sie hob den Blumentopf an, und als sie den Sakristeischlüssel darunterfand, redete sie sich ein, dies sei ein gutes Omen. Der liebe Gott wollte, dass sie ihre Stimme, die er ihr geschenkt hatte, als Schlüssel zu einem besseren Leben nutzte. Als sie die Sakristei aufschloss, tat sie es, um das Gottesgeschenk, ihre Stimme, zu würdigen, und als sie die alte Soutane auf Anhieb fand und kurz darauf den Schreibtischschlüssel in der Hand hielt, sagte sie es sich wieder: Was sie tat, war gottgefällig, sie durfte das Geschenk, das ihr gemacht worden war,

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