Sturm über Sylt
Mobilisierung nicht möglich.« Frerich war mit seinen eigenen Erklärungen sehr zufrieden. »Haben Sie auch von den Theorien Charles Darwins gehört?«, fragte er Ludwig, um das Maß der intellektuellen Auffassung von Krieg und Frieden vollzumachen.
Ludwig verstand den Zusammenhang nicht. »Sie denken an sein Werk ›Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl‹?« Er runzelte irritiert die Stirn. »Das Buch ist schon vor fünfzig Jahren herausgekommen.«
»Aber der Philosoph Herbert Spencer überträgt den Darwinismus auf die heutige Gesellschaft. Es geht immer um das Überleben des Stärkeren! Kommt das den Herren, die den Krieg wollen, nicht gerade recht? Jeder gibt plötzlich dem potentiellen Feind minderwertige rassische Eigenschaften. Das Minderwertige soll ausgerottet werden! Und jeder hält natürlich den jeweilsanderen für minderwertig und das eigene Volk für überlegen. Mit so einem Nationalismus wird der Krieg sogar begrüßt! Von allen! Denn alle wollen sich für höherwertig halten!«
Aletta hatte genug gehört. Seit der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Herzogin Sophia in Sarajewo ermordet worden waren, sprach Ludwig nach ihrem Geschmack viel zu oft vom Krieg. Sie wandte sich an Insa. »Lass uns den Sarg für Mutter aussuchen. Wir können die Kutsche nehmen.«
Insa war einverstanden, sie schien sogar froh zu sein, mit dieser Aufgabe nicht allein zu bleiben. Und Pfarrer Frerich sah wohlgefällig zwischen den beiden Schwestern hin und her.
Ludwig nickte Aletta aufmunternd zu. »Ich werde einen Spaziergang machen.«
»Wenn Dirk Stobart nicht da ist«, rief der Pfarrer ihnen nach, als sie die Küche verließen, »wendet euch an Sönke. Der kennt sich genauso gut aus!«
Sie hatte den Säugling lange im Arm gehalten, ihn gewiegt, ihn an sich gedrückt und gestreichelt. Dann endlich war er eingeschlafen, und sie musste überlegen, was nun zu tun war. Auf der Kirchentreppe war das Kind nicht sicher.
Aletta dachte nicht lange nach. Sie ging wieder um die Kirche herum, holte erneut den Schlüssel der Sakristei hervor und legte Sönke auf den Schreibtisch des Pfarrers. Dort hatte er es warm und trocken.
Sie verabschiedete sich von ihm mit einem Kuss, streichelte noch einmal sein Gesichtchen, dann trat sie aus der Sakristei und ließ diesmal den Schlüssel stecken. Wer das Kind noch vor dem Pfarrer weinen hörte, sollte ohne weiteres zu ihm kommen können, um ihm zu helfen.
Leise zog sie die Tür ins Schloss, als gälte es, die Toten, die hier ruhten, nicht zu stören. Doch schon im nächsten Moment fürchtete sie, dass sie nicht leise genug gewesen war. Nur ein paarSchritte war sie gegangen, nur bis zur Ecke der Kirche, da vernahm sie das Knirschen im Kies. Schritte? Aus welcher Richtung kamen sie? Aletta lauschte so angestrengt, dass ihr der Schweiß ausbrach. Tränen stiegen ihr in die Augen, ihre Beine begannen zu zittern, ihr Körper wurde von Angst geschüttelt. Wieder das Knirschen! Hinter ihr? Ja, jemand folgte ihr. Der Geist der alten Nachbarin, der sich ans Leben klammerte? Umblicken wollte Aletta sich auf keinen Fall; wissen, wer sich außer ihr des Nachts auf dem Friedhof aufhielt, wollte sie auch nicht. Weg wollte sie! Nur weg! Und endlich gab das Entsetzen sie frei, lockerte seinen Griff, warf sie nach vorn. Flucht! Das war ihr einziger Gedanke.
Doch sie kam nicht weit. Nur wenige Schritte, die einen Widerhall fanden in anderen. Ihre Schritte flogen leicht über den Kies, ihr Echo jedoch war laut und dröhnend. Wer ihr folgte, war größer, schwerer und leider auch schneller. Aletta war gerade am Tor angekommen, aber es zu übersteigen, schaffte sie nicht mehr. Eine Hand riss sie zurück, eine andere legte sich grob über ihren Mund. Sie roch nach Tabak und Urin ...
Aletta fragte sich, ob Insa zum ersten Mal in ihrem Leben in einer Kutsche fuhr. Ihre Schwester saß so kerzengerade da, als hätte sie eine ganz neue Perspektive auf die Welt. Vielleicht war es aber auch die Trauer um ihre Mutter, die für das Steife, Förmliche verantwortlich war, mit der sie über alles hinwegsah, was ihr sonst auf Augenhöhe begegnete.
Die Zimmerei Stobart lag in der Steinmannstraße am Rande Westerlands, auf dem Weg nach Wenningstedt. Ein großes, flaches Gebäude, in dem geklopft und gehämmert wurde und die Säge den Rhythmus dafür zu geben schien. Davor standen zwei Leiterwagen mit eingespannten Zugpferden, die gerade beladen wurden, der eine mit Bauholz, der
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