Sturm über Sylt
nicht beiseiteschieben. Krieg! Konnte es wirklich sein, dass es Krieg gab? Dass sie nicht mehr singen konnte? Sie blickte über den Strand, sah das fröhliche Treiben, all das Unbeschwerte, das nicht zu Ludwigs düsteren Ahnungen passte.
Ein Page kam, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen und sagte leise zu Ludwig: »Der Direktor sagt, es würde Sie sicherlich interessieren: Österreich-Ungarn hat Serbien den Krieg erklärt. Kaiser Franz-Joseph hat soeben in Bad Ischl die Kriegserklärung unterschrieben.«
Ludwig bedankte sich für die Information, wartete, bis der Page mit dem Geschirr ins Hotel zurückgegangen war, dann erhob er sich und deutete eine kleine Verbeugung an. »Ich muss telefonieren.«
Er wartete eine Entgegnung Alettas nicht ab, sondern ging mit großen Schritten ins Haus. Sie konnte beobachten, dass er einen Gast, der ihn zuvorkommend begrüßte, mit einer ungeduldigen Geste abwies. So etwas passte nicht zu Ludwig Burger, der für seinen Charme und seine guten Manieren bekannt war! Und diese kleine Unhöflichkeit war es schließlich, die Aletta zeigte, wie ernst es um sie stand.
IV.
Ludwig reiste schon zwei Tage später ab. Kurz nachdem er die Nachricht über die russische Generalmobilmachung erhalten hatte.
»Das ist reinste Provokation für Deutschland«, erklärte er Aletta. »Das lässt sich Generalstabschef Moltke nicht gefallen. Er drängt von Hötzendorf nun auch zur Generalmobilmachung. Von Vermittlungsversuchen will niemand mehr etwas wissen.«
»Wie hast du das erfahren?«, fragte Aletta verzweifelt.
Ludwig wartete, bis die Hotelangestellten mit seinem Gepäck das Zimmer verlassen hatten, dann zog er Aletta in seine Arme. »Ich habe meine Verbindungen«, antwortete er vage. »Deutschland hat Russland heute ein Ultimatum gestellt, die Generalmobilmachung auf der Stelle abzubrechen. Auch Frankreich hat ein Ultimatum von achtzehn Stunden erhalten. Es soll Neutralität im Falle eines deutsch-russischen Konflikts zusichern.«
In Aletta wurde ein winziger Funke der Hoffnung angezündet. »Und wenn sich Russland und Frankreich fügen? Dann gibt es doch keinen Krieg?«
Ludwig zog sie so fest an seine Brust, als sollte sie nichts sehenund nichts hören. Aber sie fühlte, dass er den Kopf schüttelte. »Das ist nicht zu erwarten. Russland wird weitermachen, und Frankreich wird nur seine eigenen Interessen im Auge haben. Die Ultimaten werden verstreichen, ohne dass etwa geschieht. Ganz sicher!« Er schob Aletta von sich weg und sah ihr ernst in die Augen. »Liebes, ich bin froh, dass du auf meinen Rat hörst und auf Sylt bleiben wirst. Ich habe meine Schwester damit beauftragt, sich um unsere Wohnung in Wien zu kümmern. Alles andere ...« Er schluckte den Rest des Satzes herunter und meinte stattdessen: »Der Krieg wird nicht lange dauern. Danach wird alles so sein wie vorher. Du wirst wieder singen.«
Noch vor ein paar Tagen hätte er damit ihre Augen vor der Wirklichkeit verschließen können. Aber das war nun vorbei. Sie sah in sein Gesicht, als wollte sie sich alles einprägen, was zu Ludwig Burger gehörte und was sie an ihm liebte. »Es kann nicht vorbei sein«, flüsterte sie. »Es darf nicht!«
Ludwig nickte, aber überzeugend war seine Zustimmung nicht. »Wir werden bald unser Leben weiterführen wie bisher. Und du wirst singen.« Nun konnte er sogar lächeln. »Der liebe Gott kann nicht wollen, dass dein Talent dem Krieg geopfert wird.«
Aletta spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich, aber sie bestätigte tapfer: »Ich werde wieder singen.«
»Meine Liebe bleibt bei dir«, flüsterte Ludwig. »Und deine Liebe wird mir helfen.«
Aletta schluchzte auf, versuchte, Ludwig zu halten, aber er machte einen Schritt zurück und entzog sich ihren Händen. Der Abschied war vorbei, die Trennung war da.
Danach verstummte alles um sie herum. Es gab nur Ludwigs feste Schritte, die noch an ihr Ohr drangen, das Öffnen der Tür, ein Flüstern, das sie nicht verstand, dann das Zuschlagen der Tür und seine Schritte, die sich entfernten. Danach erst fiel der Schrei einer Möwe ein, das Meer rauschte heran, die unverändert fröhlichen Stimmen drangen vom Strand herauf.
Aletta ging zum Fenster, obwohl sie den Eingang des »Miramar« von dort nicht sehen konnte. Aber als sie das Fenster öffnete, hörte sie den Ruf eines Hausdieners, das Schimpfen des Kutschers, das Trappeln nervöser Pferde und dann den Ruf, der das Gespann antrieb. Es geschah, was sie noch vor Tagen für unmöglich
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