Sturm über Sylt
Kindes an ihrer Wange, ihr stieg sein Duft in die Nase, sie hörte sein klägliches Schreien.
Jorit war genauso besorgt. »Er wäre an der Front verloren. Du kennst ihn doch. Er ist ängstlich und unsicher, geistig nicht besonders schnell und versteht oft nicht, was man ihm sagt. Er braucht Zeit für alles, er reagiert sehr langsam. Aber er ist ein guter und lieber Kerl. An der Front wäre er Kanonenfutter. Das weiß er anscheinend selbst.«
»Aber wenn er erwischt wird ...«
»Deswegen mache ich mir solche Sorgen. Wenn er weiter heimlich Jagd auf Wildenten macht, um etwas zu essen zu haben, dann wird es ihm nicht besser ergehen als an der Front. Anscheinend hat er sich irgendwo versteckt. Wie soll er erfahren, dass er Gefahr läuft, erschossen zu werden, wenn er mit der Jagd weitermacht?«
»Wird nach ihm gesucht?«
Jorit bejahte bedrückt. »Bei uns ist ein Oberleutnant einquartiert. Willem Schubert! Seine Aufgabe ist es, nach Deserteuren zu suchen und sie zu verhaften. Sönke ist nicht der Einzige.« Jorit wechselte das Thema, als sich Schritte näherten. »Darf ich auf einen Tee mit zu dir kommen?«
Aletta zögerte. »Du bist sehr häufig zum Tee bei uns. Insa macht sich schon Gedanken.«
»Deine Schwester ist mit deinem österreichischen Freund nicht einverstanden.«
»Sie ist mit einem Sylter Freund genauso wenig einverstanden, wenn er verheiratet ist«, antwortete Aletta scharf.
Jorit wollte etwas entgegnen, unterließ es aber, weil zwei Frauen an ihnen vorbeigingen, die Aletta erkannten und ihr zuriefen, dass sie ihr Konzert im Alten Kursaal sehr genossen hätten. »Ihre Stimme ist wirklich ein Geschenk Gottes!«
Aletta bedankte sich mit einem Lächeln, dann wandte sie sich Jorit wieder zu. »Ich bin schwanger.«
Seine Miene, die eben noch spitzbübisch und sogar ein wenig dreist gewesen war und damit viel Unsicherheit versteckt hatte, war nun ähnlich betroffen wie in seiner Sorge um Sönke. »Soll ich mich für dich freuen?«, fragte er.
Aletta wollte auffahren, ihn zurechtweisen, aber sie brachte es nicht fertig. »Es ist Krieg«, murmelte sie. »Ludwig ist an der Front, und außerdem ... er will keine Kinder.«
Jorits Gesicht verschloss sich nun ganz. »Tut mir leid, Aletta! Für mich ist es auch schwer, mich über eine bevorstehende Geburt zu freuen.«
Aletta berührte kurz seine Hand. Die Geburt seines Kindes, dessen Tod, die Folgen dieser Geburt für seine Frau ... das alles stand mit einem Mal zwischen ihnen. Wären sie allein gewesen, hätte Aletta ihn vielleicht in ihre Arme gezogen, so aber blieb sie mit hängenden Armen vor ihm stehen und sah hilflos zu, wie er mit seinen schrecklichen Erinnerungen kämpfte und sie schließlich niederdrückte.
»Ich habe heute Nachricht von meinen Schwiegereltern erhalten«, sagte er leise. »Sie wollen mit Tomma auf die Insel kommen. Sie glauben, dass sie hier sicherer ist als in der Stadt.«
Aletta sah ihn erschrocken an, spürte dann die Bestürzung in ihrem Blick und versuchte, ihn schleunigst in höfliche Anteilnahme zu verwandeln. »Fremden ist der Zutritt zur Insel verwehrt.«
»Tomma ist Sylterin. Und da sie nicht in der Lage ist, allein zu reisen, haben meine Schwiegereltern die Genehmigung erhalten, nach Sylt zu kommen. Im Hotel ist genug Platz. Wir haben zwar auch Einquartierung erhalten, aber es sind noch einige Zimmer frei.«
Aletta hatte plötzlich das Gefühl, als würde sie beiseitegeschoben, als vergrößerte sich der Abstand zu Jorit, obwohl sie sich beide nicht rührten. Der Augenblick verdichtete sich, die Luft erschien ihr kühler, als sie war, der Wind stärker, die Schreie der Möwen waren lauter, die Dämmerung warf so unerwartet ihr graues Laken über die Insel, als zöge ein Sommergewitter auf, mit dem niemand gerechnet hatte.
Sie machte einen Schritt zurück. »Ich muss Insa beim Abendessen helfen. Der Hauptmann isst für drei, und dem Leutnant fällt es schwer, sich mit einem einfachen Essen zufriedenzugeben. Er ist anscheinend Besseres gewöhnt, wenn er es auch nie verlangt. Insa hat also viel zu tun.«
Jorit nickte, als verstünde er, was Aletta ihm wirklich sagen wollte. »Mein Dienst fängt ja auch bald an.« Er entfernte sich ebenfalls mit einem Schritt von Aletta. »Ich hoffe, dass mit Sönke alles gutgeht.«
»Ja, das hoffe ich auch.«
Sie lächelten sich noch einen Gruß zu, dann wandten sie sich voneinander ab und gingen in unterschiedlichen Richtungen davon. Zwei Fremde, die sich einmal sehr nah gewesen
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