Sturm über Sylt
nur noch Geert gelingen, Aletta so zu behandeln, als wäre sie sein eigenes Kind.
Aletta las den letzten Satz noch einmal, dann noch mal und immer wieder. Schließlich ließ sie das Blatt sinken, das sie am Boden der Truhe gefunden hatte. Um es zu heben, hatte sie mehrere Blätter verlorengeben müssen, die sich unter ihren Händen in Staub verwandelt hatten. Sie sah sich nach einer Sitzgelegenheit um und entdeckte einen niedrigen alten Schemel, der auf drei wackeligen Beinen stand. Unruhe breitete sich wie Fieber in ihr aus. Sie öffnete die oberen Knöpfe des Kleides und wedelte sich mit dem Rock Luft zu. Dass ihre Hände zitterten, merkte sie erst, als sie das Blatt umdrehte. Und nun endlich konnte sie auch zulassen, dass der letzte Satz in ihr Bewusstsein eindrang. »Als wäre sie sein eigenes Kind ...«
Er sagt, ich mache mir zu viele Gedanken, ich soll einfach alles andere vergessen. Geert hat gut reden. Er ist nicht der Vater, sonst würde er sich mehr um Aletta sorgen. Ich muss ihm ja dankbar sein, dass er mir verziehen hat. Wenn es nach ihm gegangen wäre, sähe unsere Familie jetzt anders aus. Aber zum Glück hat er sich dann doch abgefunden. Wir werden ganz normal weiterleben, als wäre nichts geschehen.
Sie starrte das bebende Stück Papier an, dann jedes einzelne Teil, das auf diesem Speicher gelandet war, jedes ausgediente Möbelstück, jedes Werkzeug, das nicht mehr gebraucht wurde, jede Holzkiste, die etwas enthielt, was zum Wegwerfen zu schade,aber zur Weiterverwendung nicht gut genug war, einen Holzschuh ihres Großvaters, seine alte Pfeife und den Webrahmen ihrer Großmutter, der schon Jahre vor ihrem Tod nicht mehr funktioniert hatte. Jedes einzelne Teil war von ihrem Vater auf den Speicher getragen worden! Sie sah seine Hände vor sich, schmal und doch stark, verarbeitet, rissig und nie ganz sauber, so heftig er sie auch geschrubbt hatte, seine schlanke Gestalt, sein schmales Gesicht, das kluge Lächeln, wenn er beschloss, über etwas hinwegzusehen, der aufmerksame Blick, wenn er versuchte, etwas zu verstehen, was ihm nicht gefiel. Er hatte sie nie auf seinen Schoß gezogen, nie an sich gedrückt oder liebkost, aber das war in Sylter Familien nicht üblich. Kinder sollten nicht verzärtelt werden, sie mussten früh lernen, dass das Leben hart machte und dass derjenige am besten zurechtkam, der so hart war wie das Leben selbst. Trotzdem hatte sie einen zärtlichen Vater gehabt, der ihr auf andere Weise gezeigt hatte, was sie ihm bedeutete. Nun sollte er nur ein Mann sein, der sich bereit erklärt hatte, bei ihr die Vaterrolle zu übernehmen?
Vorsichtig, mit steifen Beinen, stieg sie die Treppe hinab, darauf bedacht, dass das Blatt Papier keinen Schaden nahm. Sie öffnete leise die Tür, hörte Insa noch immer im Erdgeschoss mit den Soldaten reden und ging in ihr Zimmer. Sie holte das Tagebuch ihrer Mutter unter der Matratze hervor und legte das Blatt sorgfältig hinein. Dann schob sie es zurück und ging zum Spiegel.
»Die Augen hat sie von ihrem Vater«, hatte sie die Leute oft sagen hören. Und sie hatte ihrem Vater in die Augen gesehen und festgestellt, dass alle recht hatten. Auch er hatte graue Augen mit braunen und grünen Splittern. Genau wie Insa! Und das sollte nun nicht mehr gelten?
Wieder schwappte eine Welle der Übelkeit über sie hinweg, die sie ertrug, ohne den Blick von ihrem Spiegelbild zu nehmen, das plötzlich keine Ähnlichkeit mehr mit ihrem Vater zu haben schien. Sie merkte, dass sie instinktiv ihre Stütze aufbaute, die imstande war, sich wie ein schützender Panzer um sie zu legen,dass sie die Kraft ihrer Atmung sammelte, um sich auf nichts anderes als den Gesang zu konzentrieren, um den Blick aus der Welt zu nehmen und in eine Ferne zu richten, wo es kein Problem gab, das nicht niedergesungen werden konnte.
»Wenn du singst, scheinst du alles zu vergessen«, hatte Ludwig gesagt. »Deswegen bist du so authentisch. Immer wieder aufs Neue!«
Vera hatte es anders genannt. »Deine Stimmatmung ist perfekt! Deswegen bist du besser als andere!«
Wahrscheinlich hatten beide recht gehabt. Die Stimmatmung gelang Aletta, ohne nachzudenken, und dass sie beim Singen alles andere vergessen konnte, stimmte ebenfalls. Noch immer mit dem Blick in ihr Spiegelbild begann sie zu singen. »Guten Abend, gut’ Nacht ...«
Wenn du mir nah sein willst, dann sing, hatte Ludwig geschrieben. Dass sie singen konnte, um zu vergessen, wusste er. Vergessen, was ihre Mutter geschrieben hatte!
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