Sturm über Sylt
wiederholte Weike folgsam.
»Er war von einem Tag auf den anderen verschwunden.«
»Er ist vor kurzem in Hamburg gesehen worden. So weiß ich, dass er noch lebt. Ich dachte, er hätte sich nie gemeldet, weil er längst tot ist.«
Weikes Schicksal türmte sich in Sekundenschnelle vor Aletta auf und fiel genauso schnell wieder in sich zusammen. Der Mann, den Weike geliebt hatte, war gerade in dem Moment, als sie glauben konnte, dass er nicht mehr am Leben war und sie ihn für tot erklären lassen wollte, gesehen worden. Die Hoffnung, die Weike vielleicht soeben überwunden hatte, war wieder da gewesen. Ein neues Leben mit einem anderen Mann, einer Familie, einem kleinen Glück war daraufhin erneut unmöglich geworden. Boncke hatte Weikes Leben mitgenommen, als er Sylt Hals über Kopf verließ. Und Weike konnte nicht ahnen, dass Aletta Lornsen etwas damit zu tun hatte. Deswegen war sie fassungslos, als Aletta ihr anbot: »Wenn du etwas brauchst, sag mir Bescheid. Ich helfe dir gern, wenn ich kann.«
»Wie willst du mir helfen?«, fragte Weike atemlos zurück.
Aletta merkte, dass sie rot wurde. Diese Frage beschämte sie. Ja, wie sollte sie Weike helfen? Geld hatte sie zurzeit genauso wenig wie sie, und mit ihren guten Beziehungen in der Welt der Theater und Konzertsäle konnte Weike nichts anfangen. Was hatte sie sich nur bei diesem Angebot gedacht? Damit hatte sie sich selbst bewiesen, was es Weike so schwergemacht hatte, auf sie zuzugehen und was Insa ihr ständig vorhielt: Sie gehörte auf Sylt nicht mehr dazu.
Weike bemerkte Alettas Bestürzung. »Trotzdem danke für das Angebot«, sagte sie. »Und alles Gute.«
Sie wandte sich ab und ging davon. Während Aletta ihr nachblickte, verglich sie ihr eigenes Leben mit den zehn Jahren, wie sie für Weike vergangen waren. Noch jemand, der für den großen Erfolg der Sängerin Aletta Lornsen hatte zahlen müssen! Und das war nicht wiedergutzumachen. Geld ließ sich zurückzahlen, aber nicht solch ein Unglück. Aletta musste mit den Tränen kämpfen, während sie ihren Seidenschal glattstrich und sich wieder um den Hals legte.
Dass das Betreten des Strandes seit Kriegsbeginn verboten war, fiel ihr zwar ein, aber da der Strandübergang nicht bewachtwar und sich ihr niemand in den Weg stellte, schüttelte sie den Gedanken wieder ab. Dass es dort auch gefährlich sein konnte, weil die Inselwache den Strand mit Minen versetzt hatte, daran dachte sie jedoch nicht.
Während sie die Schuhe auszog und durch den Sand auf die Wasserkante zuging, stand Ludwig vor ihren Augen, elegant, lächelnd, charmant. Sein Bild in Uniform wollte sich nicht darüberschieben lassen, erst recht nicht das Bild, das ihn in einem Schützengraben zeigte, schmutzig, hungernd, frierend, verzweifelt, womöglich verwundet, schreiend vor Angst und Schmerzen, bereit, zu töten!
In einiger Entfernung sah Aletta mehrere Soldaten direkt an der Wasserkante stehen, die sich um etwas scharten, was zu ihren Füßen lag. Aus der Ferne konnte man es für einen Toten halten. Nun lösten sich aus den Dünen weitere Soldaten, schon rief ein anderer und winkte seine Kameraden zur nächsten Stelle, wo es genauso aussah. Auch hier lag etwas im Sand, so groß wie ein Mensch. Aletta gab sich Mühe, konnte aber nicht erkennen, worum es ging. Strandgut vermutlich. Die Soldaten der Inselwache waren mittlerweile bekannt dafür, erfolgreiche Strandgutsammler zu sein.
Sie hockte sich in den Sand, blickte aufs Meer hinaus, wurde aber aufs Neue von der Unruhe abgelenkt, die immer mehr Soldaten anlockte. Gern wäre sie näher herangegangen, aber sie traute sich nicht.
Nach einer Weile hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Als sie sich umblickte, entdeckte sie einige Soldaten der Inselwache hinter sich in den Dünen, die ihren Wachdienst ernster nahmen als die, die sich am Ufersaum aufhielten und dort nach wie vor aufgeregt hin und her liefen. Sie wurde beobachtet! Dreimal eine Bewegung, ein dunkler Punkt, herunterrieselnder Sand, eine Kappe, der Lauf eines Gewehrs. Jemand rief zu der Gruppe und winkte aufgeregt in Alettas Richtung.
Trotzig drehte sie sich zurück, als sich eine Gestalt aus derGruppe löste und auf sie zukam. Bald stob Sand in ihren Augenwinkeln auf, schwere Schuhe erschienen, schließlich setzte sich jemand neben sie in den Sand. Als sie seine Hände sah, wusste sie, um wen es sich handelte.
»Wollen Sie einer Sylterin etwa den Aufenthalt am Strand verbieten?«, fragte sie, ehe er den Mund
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