Sturm ueber Thedra
wo sich ein schäumender Bachlauf in sprühenden Kaskaden über die Felsen ergoß, sah sie einen Menschen - nein, einen Wanderer, der von einer Wildkatze an den Rand des Wasserlaufs gedrängt worden war.
"Ging!" - Kein Zweifel! Da stand Dessen Vater Ging mit dem Rücken zum Wildbach, wehrte mit seinem Stecken einen Puma ab, der ihn fauchend belauerte und schrie wie am Spieß.
"Ging!", rief Teri ihm von Weitem zu. "Halt aus! Ich komme!" Mit Riesensätzen jagte sie den steinigen Abhang hinunter. Sie flog förmlich über Felsbrocken und Geröll. Ein einziger Fehltritt, und Teri hätte sich alle Knochen im Leib brechen können.
"Hilfe! Hau ab! Hilfe!" Ging holte mit seinem kurzen Stecken aus und ließ ihn vor der Nase der Wildkatze durch die Luft zischen. Das Tier wich seitlich aus und duckte sich erneut zum Sprung.
Ging war in Gefahr! Teri merkte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Wieder spürte sie die Kraft, die in ihren Körper strömte, wie sich flüssige Bronze in eine Form ergießt. Sie sah, wie die Bewegungen des Tieres und Gings sich zu verlangsamen schienen, spürte, wie der Fels unter ihren Sohlen knirschend nachgab, wenn sie sich abstieß. Mit unglaublicher Geschwindigkeit stürmte sie voran, denn der Puma hatte sich losgeschnellt und sprang mit entblößtem Fang auf Gings Gesicht zu.
Zu spät, den Dolch zu benutzen! - Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung warf sich Teri mit der Schulter gegen den Brustkorb des Tieres. Genau in dem Moment, in dem Gings Wanderstab das Tier am Kopf traf, tauchte Teris Schultergelenk tief in den geschmeidigen Raubtierkörper ein. Teri spürte, wie ein paar Rippen im Brustkorb des Tieres brachen, sah, dass sie den Puma aus seiner Sprungbahn gedrängt hatte und stoppte ab. Wild fauchend drehte sich das Tier in der Luft, landete hart auf dem steinigen Bachufer, versuchte, sich festzukrallen, rutschte ab, fiel ins Wasser und trieb mit den reißenden Wirbeln schnell außer Sicht.
Teri wandte sich Ging zu. Sie konnte es kaum glauben, den kleinen Wanderer, der in Isco wie ein Bruder zu ihr gewesen war, hier zu sehen.
"Ich bin gekommen, um dir zu helfen!", lächelte Ging sie schwer atmend an. Stolz reckte er den kurzen Wanderstab in die Höhe. "Ich bin ..." Dann brach er mit einem Ächzen zusammen.
Aganez war wütend wie selten zuvor, und er war in seinem Leben sehr oft wütend gewesen. Die Respektlosigkeit dieser Hüterin schlug alles, was er bislang erlebt hatte. Unter normalen Umständen hätte er sich sofort von ihr getrennt, aber das ging ja leider nicht. - Und das war der Punkt, der Aganez wirklich zu schaffen machte: Er war abhängig! Abhängig von der Freundlichkeit, der Hilfsbereitschaft und der Kraft dieser jungen Frau.
Es ist schwer, einzusehen, dass der eigenen Kraft und Macht Grenzen gesetzt sind, besonders, wenn man sein Leben lang zu den Mächtigen gehört hat. Aganez war immer ein Einzelgänger gewesen, der aufgrund seines überlegenen Wissens bei den Herrschenden in hohem Ansehen gestanden hatte. Bejubelt vom Volk, geachtet von Königen und gefürchtet von seinen Schülern, hatte er nie gelernt, was es heißt, abhängig zu sein. Mit der Arroganz des Starken war er seinen Weg gegangen, und es war alles in allem kein schlechter Weg gewesen. - Aber Freundschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit, das waren Dinge, die er nicht gebraucht und nicht gelernt hatte. Abhängig zu sein von Teris Entscheidungen, sich mit ihr abstimmen zu müssen, was richtig und was falsch sei, seine Pläne aufzudecken, das war ihm alles zuwider. War er auch äußerlich ein Greis, der aus eigener Kraft kaum einen Geröllhang erklimmen konnte, so war sein Geist doch immer noch der des jungen Mannes, der es dank seiner kämpferischen Natur und seines Wissens mit einer ganzen Armee hatte aufnehmen können; denn der Mensch ist innen immer jünger als außen und pflegt es nicht zu bemerken, wenn seine Vorzüge ihn verlassen.
Abhängig sein! Aganez stieg vorsichtig, in kleinen Schritten, von dem Felsstück herunter, auf dem Teri ihn zurückgelassen hatte. - Abhängig sein! Sich abstimmen müssen! Rücksicht nehmen! Wie unnötig und unwürdig für den Mann, der Thedra überhaupt erst zu einer Stadt gemacht hatte. Was hatten die Thedraner ihm da bloß geschickt? Diese Hüterin war die reinste Zumutung für einen denkenden Menschen, hatte sie es doch wirklich gewagt - und wagte es immer wieder - Kritik an ihm zu üben! - Und jetzt hatte sie ihn einfach mitten auf einem Geröllhang
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