Sturm
Pflanze, auf die der Reisende nur in Somerstorm stoßen wird. Man findet sie überall, in halbgefrorenen Marschen, auf nacktem Fels und in dunklen Grotten. Die Somer essen die Wurzeln – üblicherweise zu einem bemerkenswert geschmacklosen Brei zerkocht – und stellen Mehl aus den weizenartigen Schoten her. Mit den Halmen decken sie Dächer oder verweben sie zu Matratzen, Vorhängen, sogar Kleidung. Maka trägt im Wesentlichen dazu bei, dass in Somerstorm alles von Menschen Gemachte die gleiche schmutzig braune Farbe trägt.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1
Die Nachtschatten wurden stärker. Das bemerkte Gerit mit jedem Tag, der verging. Anfangs hatten die meisten sich mit der aufgehenden Sonne in Menschen verwandelt, jetzt wechselten viele ihre Gestalt gar nicht mehr. Die grotesken Gestalten, die ungeschickten, halb menschlichen, halb tierischen Bewegungen waren verschwunden. Es erschien ihm, als fänden die Nachtschatten langsam zu sich selbst.
Er dachte an die Soldaten, die vielleicht bereits zur Rückeroberung Somerstorms aufgebrochen waren. Wenn sie sich auf die Erzählungen der Flüchtlinge verließen, würden sie keinen so starken Gegner erwarten. Doch warnen konnte er sie nicht. Die Tore der Festung waren eine Grenze, die er nicht überschreiten durfte. Er hatte sein Wort gegeben, sich damit die Bewegungsfreiheit innerhalb der Mauern erkauft. Trotzdem sammelte er Informationen, notierte sie heimlich auf Pergamentresten, die eigentlich zum Feuermachen gedacht waren und die er stets am Körper trug. Er hoffte, dass er eines Tages einen Weg finden würde, sie aus der Festung zu schmuggeln.
Mit einem Eimer in der Hand ging Gerit über den Hof und blieb vor einer der Regentonnen stehen. Sie waren alle bis zum Rand gefüllt. In den letzten Wochen hatte es fast ununterbrochen geregnet. Er hob den Eimer, verharrte jedoch, als er sein Spiegelbild auf der glatten Wasseroberfläche bemerkte. Es war verzerrt. Kleine Fliegen schwammen darin. Sein Hals wirkte zu lang, seine Stirn zu hoch. Aber er bemerkte auch andere Dinge, die Narben auf seiner Wange von Korvellans Krallen, die flache, gebrochene Nase, die Zahnlücke und die vernarbten Augenbrauen. Er fragte sich, ob seine Schwester ihn überhaupt wiedererkennen würde, sollten sie sich noch einmal begegnen. Oder vielleicht würde sie sein Äußeres erkennen, aber nicht mehr ihn selbst.
Ich habe mich verändert, dachte er. Ich habe mich verändert, und ich habe überlebt. Der Gedanke machte ihn stolz.
»Gerit, kommst du rein? Ich hab Tee gekocht.« Es war Mokshs zitternde Stimme, die ihn den Blick von seinem Spiegelbild heben ließ. Ohne sich umzudrehen, tauchte er den Eimer ein, füllte ihn mit Wasser und den verzerrten, auseinandergerissenen Resten seines Abbilds.
»Gerit? Du kannst auch Makabrei haben. Der ist ganz frisch.«
Es war zu einem Ritual geworden. Moksh rief ihn jeden Morgen zu sich in die Gerberei, Gerit ließ ihn jeden Morgen stehen. Er hatte gelernt, durch den alten Nachtschatten hindurchzusehen, so als wäre er nicht mehr als eine Krähe im Dachgebälk.
Den Starken zog es zu den Starken, nicht zu den Schwachen.
Aus den Augenwinkeln sah Gerit, wie Moksh im Eingang der Gerberei stand, einen dampfenden Topf in der Hand. Er zitterte so stark, dass der Tee darin überschwappte.
Er wird sich verbrühen, wenn er nicht aufpasst, dachte Gerit, drängte den Gedanken jedoch rasch wieder zurück. Mokshs Leben ging nur ihn selbst etwas an.
Die Tür zur Küche stand offen. Gerit trat ein. Sofort stand Erick von seinem Platz am Ende des Tisches auf und nahm ihm den Eimer ab.
Gerit nickte ihm zu. »Danke.«
Er setzte sich an das Kopfende, wie es ihm als Herrn der Küche gebührte. Makabrei, Tee und Ziegenmilch standen auf dem Tisch. Die Nachtschatten, die sich zum letzten Mahl vor dem Tagschlaf versammelt hatten, saßen stumm auf den beiden Holzbänken rechts und links des Tisches. Achtzehn Untergebene hatte Gerit, zehn davon arbeiteten in der Küche, die anderen in der Backstube. Zu Horons Zeiten waren die beiden Bereiche getrennt geführt worden, aber Gerit war auf die Idee gekommen, sie zusammenzulegen. Niemand hatte ihm widersprochen. Sogar Erick, der die Backstube bis dahin geführt hatte, war einverstanden gewesen.
Gerit zählte seine Untergebenen durch. Nur zwei von ihnen fehlten, arbeiteten wohl noch irgendwo in der Festung.
»Kruy«, sagte er. Der angesprochene Nachtschatten stand von seinem
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