Sturmauge

Wut in seinem Geist nur abschwächen.

    Morghien ballte die Fäuste. Der Schädel hatte keinen sonderlich guten Ruf, und so aus der Nähe war er geneigt, den Gerüchten zu glauben. Er war geschaffen worden, um Aryn Bwrs Erben die nötige Stärke für seine Herrschaft nach dem Tod des Vaters zu geben, aber für Morghien fühlte sich der Schädel wie eine ungezähmte Macht an. Schon allein in seiner Nähe zu sein, ließ ihm kalte Schauer über die Haut fahren, und das war er nicht gewohnt – so etwas passierte nicht, wenn er sich in der Nähe des jungen Lord Isak befand, und der trug Jagd und Schutz bei sich.
    Ein Großteil des Raumes wurde von zwei ineinanderliegenden Kreidekreisen eingenommen. Zwischen beide hatte Morghien die Symbole der Götter des Höheren Kreises gemalt: Tod, Karkarn, Nartis, Tsatach, Amavoq, Belarannar, Larat, Ilit, Vrest, Inoth, Kitar und Alterr. Er ging um die Kreise herum, wobei er darauf achtete, die Kreide nicht zu verwischen, und nahm die Omenkette vom Hals.
    Er entfernte die geschmückten Münzen und legte sie auf die entsprechenden Symbole. Die letzten beiden, die Dame und der Sterbliche, verschwanden in seiner Tasche. Dann öffnete er eine kleine, elfenbeinverzierte Kiste und holte eine Handvoll getrockneter, schwarzgrüner Blätter hervor.
    »Totenfluch?«, fragte Emin verwundert. »Ist das eine gute Idee?«
    Morghien lachte bitter auf. »Du meinst: Macht ihn das nicht noch wütender?« Er verteilte die Blätter großzügig zwischen den beiden Kreisen, ohne eine Antwort abzuwarten.
    »Ich meine: Es wird üblicherweise nur von Nekromanten eingesetzt, zumindest dachte ich das.«
    Morghien schüttelte den Kopf. »Mein Freund, was wir hier vorhaben, wird uns sicher keinen Orden für Frömmigkeit einbringen. Ein Totenfluch wird in der Nekromantie eingesetzt, weil es etwas nützt. Heiler verwenden es oft für Packungen und Sude. Das verraten sie nur keinem, weil es immer Dummköpfe gibt, die
nur nach einer Entschuldigung suchen, um dich zu verbrennen, aber es ist keine Ketzerei.«
    »Nun gut«, murmelte Emin und erschauderte leicht. »Und jetzt?«
    »Jetzt setzt du dich vorsichtig in den Kreis.«
    Er hob das Tuch an, um die Kreidezeichen nicht zu verwischen, und trat in den Zirkel, um sich am Rand hinzuhocken, so dass hinter ihm der Großteil des Kreises frei blieb. Das Licht stammte von einer einzelnen Öllampe, die so weit heruntergedreht war, dass sie wenig mehr als einen Schimmer von sich gab.
    Ohne die Zeichen seiner Würde sah Emin nun nicht jünger aus als Morghien. Emin war im letzten Jahr sogar erkennbar gealtert. Die Gesichter beider Männer waren von Falten durchzogen und ihre Barthaare wurden grau. Er war noch immer schlank, so drahtig-kräftig wie ein Harlekin, aber im Augenblick wirkte er schwächlich. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, war Emin ein sorgloser junger Mann gewesen, aber schon damals hatte er das Gehabe eines Königs an den Tag gelegt. Jetzt war er nur noch ein von Sorgen geplagter Mann mittleren Alters.
    »Fangen wir an.« Morghien hockte sich an den Rand des Kreises und murmelte so leise Worte, dass sie kaum zu hören waren. Etwas Magie kroch aus seinen Fingerspitzen und folgte in beiden Richtungen den Kreidelinien, um sich schließlich auf der anderen Seite zu vereinen. In diesem Augenblick blitzte etwas in Morghiens Geist auf, und er wurde zurückgeworfen, als sich die magische Barriere erneut öffnete.
    »Was ist geschehen?«, wollte Emin wissen.
    Morghien brauchte einen Moment, um wieder ganz zu sich zu kommen und das Stechen aus seinem Kopf zu vertreiben. »Ich … aah, ich bin nicht sicher.« Etwas regte sich in seinem Hinterkopf. Es war Seliasei, ein Aspekt von Vasle, der seinen Geist bewohnte, die sich da bemerkbar machte.

    »Natürlich«, sagte Morghien laut. »Es liegt am Schädel. Ich versuchte ihn zusammen mit dir im Kreis zu halten.«
    »Und das ist schlecht?«
    Morghien rang sich ein Lächeln ab. »Die Schädel enthalten große Macht. Sie saugen beständig Kraft aus dem Land um sich herum auf und geben sie wieder ab. Ich habe diesen Strom mit der Barriere abgeschnitten, aber es war wie der Versuch, einen Fluss mit einem Blatt Papier aufhalten zu wollen. Der Strom durchschlug die Barriere einfach.«
    »Geht es dir gut?«
    »Danke, mein Freund, alles ist in Ordnung. Ich habe nur wenig Magie benutzt, gerade genug, um den Kreis zu versiegeln und alles, was darin ist, zu binden. Kreise sind im magischen Reich eine besondere Form. Es ist