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Sturmauge

Sturmauge

Titel: Sturmauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Lloyd
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feinem, blassblauem Stoff gewesen sein, aber nun war es zerrissen und zu Lumpen geworden, wie seine eigene Kleidung. Sie hielt einen Strauß verwelkter Blumen locker in der Hand.
    »Wir warten darauf, freigegeben zu werden«, flüsterte sie ihm ins Ohr, und jede Silbe klang wie der letzte Atemzug eines Sterbenden. »Wir warten darauf, dass unser Lord deine Seele holt. Hörst du seine Schritte schon? Spürst du, wie sich seine Hunde nähern?«
     
    »Isak«, rief eine Stimme, und jemand rüttelte ihn an der Schulter.
    Er zuckte zusammen. Die Hand fühlte sich nach der durchdringenden Kälte seines Traums fürchterlich heiß an. Er blinzelte zu der Gestalt auf, die sich über ihn beugte, und sein Kopf wirkte dumpf und schwer. Xeliath streckte ihm ihre versehrte Hand hin und sah nun deutlich kräftiger aus als bei ihrer Ankunft. Sie war eine Fremde in einem fremden Land, und das hatte sie gezwungen, stärker zu werden: Auch wenn sie verkrüppelt war, blieb sie doch ein Weißauge. Darum war sie dickköpfig genug, diese Herausforderung zu meistern. Für die meisten Farlan war eine Yeetatchen ein Feind, mochte sie auch eingeladen
worden sein. Aber nach den Wochen der Erholung freute sich Xeliath vermutlich auf den kommenden Kampf.
    »Pass auf, auf wen du das Ding richtest«, knurrte er und musterte den Kristallschädel in ihrer Handfläche finster. Ihre Beziehung war merkwürdig: Sie waren sich beide nicht sicher, wie sie wirklich aussah. Daran änderten auch die gelegentlichen Besuche nichts, die Xeliath noch immer seinen Träumen abstattete. Sie waren unwirklich genug, um sich einem Anschein von Nähe hinzugeben, der ihnen leichtfiel.
    Sie antwortete nicht, zog mit ihrer Krücke einen Stuhl heran und setzte sich mit einem zufriedenen Seufzen. Eine Weile musterte Isak das wilde braunhäutige Mädchen, das er aus ihrem Land entführt hatte. Man konnte ihre Figur unter dem dicken Wollkleid nur erahnen, aber ihr Haar – das nun länger war als bei ihrer Ankunft – fiel locker über die Ohren. Es war mit braunen, roten und gelben Bändern geschmückt, außerdem hatte sie ein Amulett von Amavoq, dem Schutzgott ihres Stammes, um den Hals gelegt.
    »Heute ist ein Festtag meines Volkes«, erklärte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Darum trage ich alle Farben Jerequans, der ruhenden Dame und … Nun, wir essen wie ein Bär vor dem Winterschlaf.«
    »Jerequan ist ein Bär?«
    »Ein Aspekt Vrests, ja.« Sie sah ihn eingehend an. »Hast du einen Kater, oder sind es noch immer die schlimmen Träume?«
    Isak versuchte sich an einem Lächeln. »Wie wäre es mit ein wenig von beidem?«
    »Natürlich, Männer! Die Probleme wegsaufen und den Rest des Landes einfach vergessen.« Sie lehnte sich an und verzog das Gesicht.
    Isak wunderte sich darüber, aber dann bemerkte er in seinem Mund einen Geschmack, als sei eine Maus hineingekrochen,
während er schlief, und darin verendet. Er richtete sich auf und erinnerte sich erst jetzt, wo er war.
    »Wie bist du hier hereingekommen?«, wollte er wissen. Er schlief in dem Raum, in dem er seine erste Nacht im Tirah-Palast verbracht hatte, auf halber Höhe des Turms von Semar, und der hatte keine Treppen. Stattdessen verlief in der Mitte ein Schacht, und ein Zauber am Boden hob Besucher auf magischen Schwingen nach oben.
    Xeliath grinste und sah dabei aus wie das Mädchen, das sie war, und nicht wie eine von der Zeit gezeichnete Alte. Die Auswirkungen ihres Schlaganfalls ließen sie viel zu oft so wirken. Sie wies auf das Loch im Boden. »Die Dame Tila half mir mit meinem Haar und erwähnte dabei, dass der Turm schon in der ersten Nacht deinen Befehlen gehorchte.«
    »Aber ich bin der Erwählte des Nartis«, wandte Isak ein. »Er soll mir gehorchen.«
    »Ha! Was so ein dummer Farlan kann, das kann ich schon lange«, erklärte sie und hob den verdrehten linken Arm. »Der Turm wusste, was gut für ihn ist, und so gehorchte er mir.«
    »Mein eigener Turm hat mich verraten?«, murmelte Isak. »Warum überrascht mich das nicht?«
    »Das passiert oft nach zu viel Wein. Hast du dich zum Saufen hier versteckt, oder zum Schlafen?«
    Er zuckte die Achseln. »Ich hatte wenig Lust, mir eine Standpauke zum Thema Wein anzuhören, schon gar nicht von dir.«
    »Ich verhalte mich nie so, wenn ich trinke«, antwortete sie tadelnd.
    »Ich weiß«, sagte Isak schmunzelnd. »Ich habe gesehen, wie du dich verhältst! Ich habe dann Angst, mich schlafen zu legen.«
    Sie musterte ihn nachdenklich von oben bis unten,

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