Sturmauge
woraufhin sich die Königin des Verfalls umdrehte.
Mihn schnappte nach Luft und sein Herz begann wieder zu schlagen.
»Warum hast du mich gerufen?«, wollte die Königin mit rauer Stimme wissen. Ihre Gliedmaßen waren so dünn, dass ihre Knochen deutlich zu sehen waren. Sie wirkte in dem zerfetzten graublauen Kleid wie eine lebendig gewordene Leiche.
Ihr verfilztes schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und auf dem Kopf trug sie eine filigrane Krone mit ungeschliffenen Diamanten. Schorf bedeckte an vielen Stellen ihre totenblasse Haut. Alles an ihr sprach von Verfall und Tod.
»Ich habe ein Angebot für dich.«
Sie gab ein Geräusch von sich, das wie der hustende letzte Atem eines Mannes klang. Mihn vermutete, dass sie lachte.
»Die Schnitter verhandeln nicht mit Sterblichen, wir hören uns nur ihr Flehen an.« Sie trat vor und bewegte die Finger so langsam, als wolle sie sich darauf vorbereiten, ihn zu packen.
Der erhobene Schädel leuchtete gleißend hell auf und gebot ihr Einhalt. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann«, warnte Isak, und seine Stimme klang vor mühsam beherrschter Wut belegt. »Ich habe keine Zeit für solche Spielchen. Du weißt, was dies hier ist, und was ich damit tun kann, also schlage ich vor, du hörst mir zu.«
Die Königin des Verfalls sah Isak weiter wie ein Adler an, ihre Finger bewegten sich unaufhörlich, aber sie widersprach seinen Worten nicht.
Nach einem Augenblick sprach er weiter: »Ihr seid Aspekte Tods, für den Augenblick außerhalb seiner Reichweite, aber dennoch seine Aspekte. Außerdem bist du nur eine von fünfen. Ich biete dir die Möglichkeit, die größte unter den Schnittern zu werden.«
»Du würdest mich anbeten?«, fragte sie spöttisch.
»Nicht nur ich, auch Mitglieder meines Stammes.«
»Leere Versprechungen.«
»Sei vorsichtig, wen du einen Lügner nennst. Ich kann dich auch einfach töten und deinen Brüdern dieses Angebot machen.«
Mihn erkannte in Isaks Gesicht, dass er ein wenig hoffte, sie würde ihm eine Entschuldigung dafür liefern, genau dies zu tun. Er versuchte seine Abscheu vor der Seuchengöttin gar nicht erst zu verbergen.
»Was ist der Preis für diese Verehrung?«, fragte sie.
»Der Preis ist, dass du einhundert Meilen des Waldes östlich von Lomin heimsuchst. Du verschonst alle Männer, Frauen und Kinder, stellst aber sicher, dass kein Elf diesen Bereich betritt und überlebt. Ich brauche die Truppen, die den Osten schützen.«
»Was du verlangst, überschreitet meine Macht«, zischte der Aspekt.
»Ich habe heute Nachmittag befohlen, dass in Lomin ein Tempel zu deinen Ehren errichtet wird und Schreine in jeder Stadt der Gegend geweiht werden. Der letzte Tag des Schwertfestes soll dein Ehrentag werden, an dem dir alle für deinen Schutz huldigen.« Isak zögerte und leckte sich nervös über die Lippen.
Mihn spürte erneut Furcht. Noch mehr? Was bietet er ihr sonst noch? Reicht das noch nicht?
»Wenn du schwörst, die Farlan im Großen Wald zu schützen, indem du unsere Feinde jagst, verspreche ich, deinen Ruhm für den Rest meiner Tage zu mehren – Tempel zu gründen, Schreine zu unterhalten, die Leute an deine Plagen zu erinnern.«
»Für den Rest deiner Tage?«
Mihn hörte die Gier in ihrer Stimme, eine Übelkeit erregende Freude auf möglicherweise mehrere hundert Jahre der Gefolgschaft. Wie mächtig wäre sie dann? Was für einer Göttin würden sie denn folgen? Gäbe es wirklich nur noch einen Schnitter?
»Für den Rest meiner Tage«, bestätigte Isak. »Du musst deine Aufgabe so lange erfüllen, wie in deinem Tempel in Lomin Gebete gesprochen werden. Und mein Leben ist verwirkt, wenn ich diesen Schwur breche.«
»Es muss einen Pakt geben«, beharrte die Königin des Verfalls. »Dieser Pakt muss besiegelt werden.« Sie streckte die Hand nach Isak aus.
Unwillkürlich schrie Mihn: »Nein! Berührt ihre Haut nicht!«
Isak hatte sich nicht geregt. Seine Züge waren eisern, ein Anblick, der sich Mihn bisher nur selten geboten hatte. »Keine Sorge«, sagte er und hielt den Blick auf die Königin gerichtet. »Ich sah, was sie in Scree tat. Ich werde die Gesichter der Männer nicht vergessen, die sie berührte.« Er zog Eolis.
Die Königin des Verfalls krümmte sich, stieß leise klagende Laute aus, aber Isak beachtete sie nicht. »Ein Pakt muss geschlossen werden«, flüsterte er. Dann berührte er die Schneide des Schwertes mit dem Zeigefinger der linken Hand, an der die Haut so weiß war wie die ihre.
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