Sturmauge
Götter!«
»Sicher nicht«, sagte Torl und setzte geringschätzig hinzu: »Aber Ihr seid kein Gott, sondern ein dummer kleiner Mann, der sich an seiner Macht berauscht. Sagt den anderen Schwachköpfen, die in Eurem sogenannten Anstandstribunal sitzen, dass ich angewiesen wurde, die Sonderverfügung Sieben wortgetreu zu befolgen. Sie sagt aus, dass ein Offizier des Heeres nur von einem Militärgericht abgeurteilt werden darf. Außerdem darf kein Mann mit höfischem Rang und kein befehlshabender Offizier ohne Waffen oder ohne seine Leibgarde reisen. Wenn Ihr mich
unterrichten möchtet, so müsst Ihr erst einen Antrag bei der entsprechenden Stelle des Farlan-Heeres stellen.« Er wies zum anderen Heer hinüber, dann auf den Anführer seiner Leibgarde. »Das wäre Lord Isak, oder im Notfall, ich selbst. Sir Dahten hier kümmert sich im Vorfeld um alle Anfragen.«
Er wandte sich ab und zeigte damit, dass das Gespräch beendet war. Hinter ihm stammelte der Priester wütend, bis ihm Sir Dahten auf die Schulter schlug. Der Ritter hatte eine besondere Begabung: Er traf in neun von zehn Fällen ohne Mühe mit dem Finger direkt in die weiche Kuhle auf der Schulter. Als er das leise Pochen der Knie des Mannes auf dem Boden hörte, wusste Torl, dass Dahten mal wieder getroffen hatte.
»Anfragen«, sagte Dahten mit böser Stimme, »können zu diesem Zeitpunkt des Vorgangs nicht mündlich vorgebracht werden. Streckt Eure Arme weit aus – ich bin sicher, dass Euer Gott Euch in dieser Stunde der Not Kraft schenkt.«
Wie lange noch können wir so weitermachen? , fragte sich Torl, schloss dann die Augen und hörte den Protest, als in jede der ausgestreckten Hände des Priesters ein Schwert gelegt wurde. Fünf Tage noch, bis wir die Runde Stadt erreichen. Oder haben wir uns bis dahin bereits zu sehr entzweit?
Am folgenden Morgen entlud sich ein Unwetter über der Runden Stadt. Die warnenden Hornstöße waren im Morgengrauen ertönt, und während die Laute noch über die Stadt hallten, kam schon die Sturzflut. In Brand war die Narbe, die den Spalt umgab, der Cambreys Zunge genannt wurde, mit dichtem, stinkendem, grauem Rauch erfüllt.
Ruhen stand in seinem hochgelegenen Zimmer im Rubinturm und sah auf eine von der Flut reingewaschene Stadt hinab. Er starrte in die verschwommene Ferne und auf seinem stets ernsten Gesicht lag nun eine Spur von Sorge. In den Händen hielt er
das dünne Buch, das einzige, was seine Mutter je besessen hatte und an das sie sich jetzt nicht mehr erinnerte. Es war das Tagebuch Vorizh Vukotics, das sie aus der Asche Screes gezogen hatte. Es erheiterte ihn, dass etwas so Wertvolles, dessen Inhalt den Verlauf des kommenden Kriegsjahres bestimmen würde, sein Kinderspielzeug gewesen war.
»Komm vom Fenster weg, Liebling«, rief die Herzogin und streckte ihm die Hand hin. »Komm, Ruhen, setzt dich zu mir.« Sie rieb sich die Schläfen, wie sie es in letzter Zeit fast unablässig tat, um damit die Kopfschmerzen zu vertreiben. Die Ränder unter ihren Augen gaben Auskunft darüber, wie schlecht sie schlief – Ruhen schlief nicht gerne in ihrem Zimmer. Er zog es vor, nach Belieben Zugang zu den dunklen Gängen des Turms zu haben, und ohne ihn fand die Herzogin keine Ruhe. Jeden Morgen wirkte sie etwas erschöpfter, etwas unruhiger, etwas ängstlicher vor den Schatten.
»Sie kommen, mein Lord.« Die Stimme, die nur Ruhen hörte, ritt auf dem Wind. Haipar zuckte. Die knochige Frau sank ein wenig mehr in sich zusammen und kaute stärker an der Lippe, als sie Aracnans Anwesenheit im Zimmer spürte, auch wenn sie ihn nicht hören konnte. Ilumene, der einen Kater hatte, bekam nichts davon mit. Er starrte grimmig auf den Boden und nippte gelegentlich an einem Becher lauwarmen Kaffees.
»Wie lang?«
»Etwa vier Tage, wenn sie die Langsamsten zurücklassen. Die ganze Armee besteht, abgesehen von dem abgerissenen Schwarm an Bauern, der ihnen folgt, aus Kavallerie. Fünf Tage, wenn sie bei ihrer Ankunft in der Lage sein wollen zu kämpfen.«
Aracnan war nur ein fernes Echo in Ruhens Kopf. Der Söldner befand sich irgendwo in Rad und jagte die Farlan-Frau, die ihm entkommen war. Seine Verärgerung darüber, dass er sie nicht finden konnte, war deutlich spürbar. Die Stellung des Söldners
innerhalb der Ereignisse hatte sich geändert. Es war kein Geheimnis mehr, auf welcher Seite er stand. Das schmälerte seine Nützlichkeit.
»Ruhen, bitte komm und halte meine Hand, flüstere meine Kopfschmerzen weg«, flehte
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