Sturmauge
diese Erinnerung ließ sein Herz erneut schmerzen. Er war sechs Monate Graf gewesen, bevor er sich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatte, und erst da war das Schuldgefühl, sie geerbt zu haben, langsam abgeebbt.
Wann wären Sterbliche, die sich mit den Göttern einließen, je unbeschadet davongekommen? , fragte er sich zum hundertsten Mal und warf einen Blick zu Isak zurück. Und doch trage ich Karkarns Träne nah bei mir und habe sein Angebot noch nicht abgelehnt.
33
Nai blieb im Eingang des Faeren-Hauses stehen und zog seinen Mantel enger um sich. Er blickte auf den Weg zurück, den er gekommen war, und sah, dass ihn Sergeant Kayel aus der Ferne beobachtete. Die anderen beiden Soldaten in Begleitung der Herzogin von Byora waren damit beschäftigt, das Tal bei diesem ersten Besuch zu bewundern. Der kränklich wirkende blonde Mann aus der byoranischen Wache konnte seinen Blick nicht von dem geflügelten Weißauge Kiallas lösen. Der dünne Oberst der Rubinturmgarde war eher an den riesigen weißen Gebäuden interessiert.
Nicht einmal die Vorhalle des Faeren-Hauses bot Schutz vor dem eisigen Wind, der wie eine bösartige Harpie durch das Tal heulte. Nai zog den armdicken Messingriegel auf und wurde von der Tür mitgezogen, die der Wind aufdrückte. Er konnte zwar verhindern, dass sie gegen die Wand krachte, wobei er sich fast die Schulter ausrenkte, erntete aber dennoch einen wütenden Blick vonseiten des Wächters, der aus dem Weg hatte springen müssen.
Der Mann sah eine Weile zu, wie sich Nai mit der großen Tür abmühte, bevor er ihm half, sie zu schließen.
»Danke«, grummelte Nai in seiner Muttersprache, als die Bemühungen des Wächters keinen erkennbaren Unterschied machten.
»Es ist schön, so einen nutzlosen Pissestrahl zu haben, der einem im Weg ist.«
Der Gesichtsausdruck des Wächters zeigte, dass Nais Ton die Sprachbarriere überwunden hatte, auch wenn er die Worte nicht verstanden hatte. Als die Tür endlich zuschlug, lächelte er dem Mann unaufrichtig zu und trat in die Mitte des Raumes, in dem Lord Styrax den größten Schreibtisch in Beschlag genommen hatte. Oberst Bernstein war bei ihm, saß neben seinem Lord und starrte niedergeschlagen in ein großes Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag.
Beide Männer trugen die formellen grauen Uniformen der dritten Cheme-Legion und auf Lord Styrax’ breiten Schultern ruhten die goldenen Schulterklappen eines Generals. Nai vermutete, dass Lord Styrax Spaß daran fand, die Regeln der Bibliothek an einem Tag zu befolgen und am nächsten zu brechen. Über ihnen rauschte der Wind über die große Kuppel. Der Tag hatte seit der Dämmerung nicht aufgeklart, es war noch immer so diesig, dass man weitere Lampen entzündet hatte. Es wurde Mittag, und weiter lauerten tiefe Schatten in allen Ecken der Bibliothek.
»Mein Lord«, murmelte Nai, als er den U-förmigen Tisch erreichte.
Lord Styrax bedeutete ihm mit einer Hand zu schweigen. »Wenn Ihr kein Fachmann für elfische Kreuzpentameter seid, will ich es nicht hören.«
»Es ist aber dringend.«
Styrax öffnete den Mund, aber dann verspürte er einen der seltenen Momente der Unsicherheit und schloss ihn wieder. Es dauerte einige Herzschläge, bis er weitersprech: »Gut – aber schnell.«
Nai bemerkte, dass eine Frau ihre Arbeit ebenfalls unterbrochen hatte und neugierig zu ihnen hinsah. Sie blickte schnell
wieder auf ihr Buch, aber Nai ging dennoch um den Schreibtisch herum, damit er etwas in Styrax’ Ohr flüstern konnte.
»Mein Lord, ich weiß nicht, was Ihr bereits wisst, darum werde ich einfach alles berichten. Eine Farlan-Armee nähert sich von Norden. Sie wird die Stadt binnen drei Tagen erreichen. Die Herzogin von Byora bietet Euch ihre Soldaten als Unterstützung für die Schlacht.«
»Sagte sie Euch das selbst?«
»Ihr Mann, Kayel, teilte es mir mit.«
Lord Styrax schwieg lange. Nai konnte in den Zügen des Mannes nicht lesen und darum auch nicht sagen, ob er all dies bereits wusste.
»Das kommt unerwartet«, sagte er schließlich mit einem angedeuteten Lächeln. »Es ist eine Weile her, dass mich jemand überraschte.« Er wies mit der versehrten linken Hand auf das Tor. Der dunkle Blutfl eck unter jedem Fingernagel wirkte im Vergleich zu den Wirbeln weißer Narben auf dem Rest der Hand spiegelglatt. »Sucht General Gaur und berichtet ihm, was Ihr mir gesagt habt. Er soll die dritte Armee zur Grenze zwischen Ismess und Byora zurückziehen.«
Nai wandte sich zum Gehen, aber Lord Styrax hielt
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