Sturmflut: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
gekommen, ob Daniel Lemarchant selbst mit der Entführung zu tun gehabt haben könnte. Er hatte ihn aber sehr schnell wieder verworfen. Einem Sechzehnjährigen traute er weder zu, so eine Aktion selbst zu planen, noch Profis aus dem kriminellen Milieu anzuheuern, die das für ihn erledigten. Und dass die Entführer professionell vorgegangen waren, ließ sich nicht leugnen.
Das begann mit der Überwältigung der Jungen in dem abgelegenen Waldstück und ging mit der sorgsam geplanten Lösegeldübergabe weiter. Obwohl diese in einem Café auf einem belebten Platz in Lausanne stattgefunden hatte, war es der Polizei hinterher nicht gelungen, Zeugen zu finden, die etwas Verdächtiges bemerkt hatten. Auch von dem Geld, das nicht markiert gewesen war, hatte sie keine Spur mehr auffinden können.
Aber irgendetwas musste dann doch schiefgegangen sein, überlegte Lobinski. Da alle Männer bei der Entführung Masken über den Gesichtern getragen hatten, ging er davon aus, dass sie dem Jungen nichts hatten antun wollten. Das war nachvollziehbar. Einen Neunjährigen gewaltsam zu entführen, erforderte schon eine Menge kriminelle Energie. Ihn jedoch kaltblütig umzubringen, dafür musste man schon absolut skrupellos sein.
Doch warum war Sébastien dann nicht freigelassen worden? Oder war er das vielleicht doch? Hatten die Entführer ihn an einem abgelegenen Ort laufen lassen, aber er war so traumatisiert gewesen, dass er nur hilflos umhergeirrt und schließlich umgekommen war?
Lobinski schüttelte den Kopf. Das war äußerst unwahrscheinlich, denn dann hätte man vermutlich irgendwann seine Leiche gefunden. Entweder hatten die Entführer den Jungen umgebracht und seine sterblichen Überreste an einem unauffindbaren Ort entsorgt, oder er hatte überlebt. Aber warum hatte man ihn in diesem Fall nicht gefunden?
Zum wiederholten Mal blickte der Privatdetektiv auf das Foto, das beinahe alle Zeitungen abgedruckt hatten. Es zeigte einen schlaksigen Jungen im Grundschulalter, dessen dunkelblonde Haare in alle Richtungen vom Kopf abstanden. Über der sommersprossigen Nase blickten blaugrüne Augen vorwitzig in die Kamera. Der Mund war zu einem Grinsen verzogen, das zwischen den Schneidezähnen eine ordentliche Zahnlücke offenbarte.
Lobinski fühlte einen schalen Geschmack im Mund. Er hatte in seiner langen Karriere erst bei der Polizei und dann als Privatermittler schon mit vielen Kriminellen zu tun gehabt. Für die meisten davon hatte er nicht allzu viel übrig gehabt, aber Kerle, die sich an Kindern vergriffen, waren ihm zutiefst zuwider.
Er zog das Bild von diesem angeblichen Lukas, das Gramser auf Sylt geschossen hatte, aus dem Stapel hervor und legte es direkt neben das größte Zeitungsfoto. Dann verglich er akribisch sämtliche Gesichtszüge miteinander: Augen, Nase, Mund, Kinnpartie und Haaransatz.
Er schüttelte den Kopf. Selbst wenn man ihn gefoltert hätte, er hätte schwören können, dass es sich um dasselbe Gesicht handelte. Es kam häufiger vor, dass manche Menschen sich ähnelten, aber meistens betraf das nur einzelne Partien des Gesichts. Dass bei zwei verschiedenen Personen zufällig so viele Ähnlichkeiten auftraten, erschien ihm äußerst unwahrscheinlich.
Er lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Ihm war klar, dass er in den vielen Stunden kaum weitergekommen war, aber immerhin war er jetzt ziemlich sicher, dass sein Auftraggeber ihm keine wichtigen Informationen vorenthalten hatte.
Was allerdings seine Meinung über Daniel Lemarchants Motivation für den Auftrag anging, war er immer noch hin- und hergerissen. Aber eigentlich war es ihm auch egal, ob der Kerl wirklich seinen Bruder finden oder nur dessen Tod beweisen wollte. Das Jagdfieber hatte Lobinski gepackt, und er würde nicht lockerlassen, bis er der Wahrheit auf die Spur gekommen war.
Er legte alle Unterlagen, die er über die Entführung hatte, auf einen Stapel und schob ihn beiseite.
Als Nächstes beschäftigte er sich mit der Sekte, der sich Sébastien angeblich angeschlossen hatte. Über die Söhne der Erde war allerdings nicht viel zu finden. Entweder waren sie nicht wichtig genug, dass sich jemand näher mit ihnen beschäftigte, oder sie verstanden eine Menge von Geheimhaltung. Immerhin betrieben sie eine Facebook-Seite, auf der zwar weder eine Adresse noch ein Kontakt genannt wurden, aber zumindest die Grundsätze der Gemeinschaft: Sie lebten in kleinen Gruppen zusammen, wobei sich ihre Siedlungen in verschiedenen Klimazonen
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