Sturmflut mit Schokoladenengel
erste Donnerstagabend, an dem ich meinem Stammplatz im Club fernblieb. Stattdessen irrte ich ziellos durch die Stadt.
Ich fand mich in mehreren Kneipen wieder und landete schließlich in einem kleinen Kino. Von dem Film bekam ich nichts mit. Erst als ich den Streifen Wochen später zum zweiten Mal anschaute, dämmerte mir, dass ich ihn schon einmal irgendwo gesehen hatte.
Gegen zehn kam ich nach Hause, warf die Aktentasche unter den Esszimmertisch und baute mich vor dem Garderobenspiegel auf. Der Mann im Spiegel sah mich fragend an. Ich versuchte mir vorzustellen, dass er vor ein paar Stunden Eva Baral geküsst hatte. In Doktor Glattarschs Büro.
Der Mann im Spiegel machte ein ungläubiges Gesicht.
Ich versuchte mir vorzustellen, dass der Mann im Spiegel morgen ein neues Konzept für die Sportabteilung präsentierte, vor den Häuptlingen der Geschäftsführung.
Der Mann im Spiegel machte ein Gesicht, als müsste er sich übergeben.
„Nicht doch“, sagte ich ihm. „Du bist gut, Franz. Du wirst ein richtig tolles Konzept hinlegen.“
Er runzelte die Stirn und versuchte zu grinsen.
„Du wirst dich jetzt hinsetzen und dieses tolle Konzept zu Papier bringen. Davon bin ich überzeugt. Kapiert?“
Der Mann im Spiegel schien einverstanden.
„Doch vorher musst du dir noch was einfallen lassen. Sonst geht die Frau, die du geküsst hast, morgen Abend mit Knut Schäfer essen.“
Der Mann im Spiegel sah das genauso.
Ich schenkte mir einen Scotch ein und tigerte grübelnd zwischen Schrankbar und Garderobenspiegel hin und her. In meinem Schädel wechselten sich das hämische Grinsen meines Chefs mit Evas hellem Lachen ab. Und ständig sah ich ihre grünen Augen vor mir.
Ich stellte mir die beiden in dem bescheuerten indischen Restaurant vor. Und danach in Doktor Glattarschs Geländepanzer. Heiße Wut kroch mir aus dem Bauch in den Schädel.
Ich schenkte mir Whisky nach. Weiter tigern, weiter grübeln.
Meine Fantasie ging mit mir durch, und ich sah die beiden in Schäfers Wohnung gehen. Deutlich sah ich auch vor mir, wie er versuchte, sie ins Bett zu kriegen – in grellen Bildern fluteten die Szenen mein Hirn und alles in mir krampfte sich zusammen. Ich schleuderte meinem Spiegelbild einen Fluch entgegen.
Vor meinem Bücherregal blieb ich stehen, betrachtete den Buchrücken meines ersten Krimis, nahm ihn heraus, blätterte darin. Gute Geschichte, gefällt mir noch heute: Ein eifersüchtiger Mann bringt seinen Rivalen um, indem er dafür sorgt, dass er mit einem Aufzug stecken bleibt.
Ziemlich unsichere Mordmethode? Stimmt. Es sei denn, man hat zuvor eine Giftschlange im Aufzug deponiert. Und genau das hatte mein Mörder getan.
Keine schlechte Idee; vor allem, wenn man bedenkt, dass es sein erster Mord gewesen war.
Am Whisky nippend setzte ich meinen Weg zwischen Schrankbar und Spiegel fort. Der Gedanke mit dem Aufzug gefiel mir immer besser. Und dem Mann im Spiegel auch. Eine Giftschlange kam natürlich nicht in Frage – zu teuer, und dann: das arme Tier. Doch so ungefähr könnte es laufen ...
Ich leerte mein Glas ins Waschbecken, stellte die Whiskyflasche in die Schrankbar und kochte mir einen starken Kaffee. Danach telefonierte ich eine geschlagene Stunde mit einem Freund, der mir noch einen fetten Gefallen schuldete – mit dem Chef der Haustechnik unserer Kaufhausfiliale. Danach arbeitete ich geschlagene sechs Stunden an meinem verhunzten Konzept.
Lange schlief ich nicht in dieser Nacht, dafür aber ziemlich tief.
*
Am nächsten Morgen war ich tierisch gut drauf. Schäfer lehnte in seiner Tür und schielte auf die Uhr. Ich schmetterte ihm ein launiges „Guten Morgen!“ entgegen.
Seine Augenbraue erstarrte auf ihrem Weg nach oben. „Eine Viertelstunde zu spät, Brecht. Schon das zweite Mal in dieser Woche. Ich frage mich allmählich, ob ich Ihnen nicht eine Abmahnung schuldig bin.“
„Können Sie sich sparen, Chef.“ Ich verstreute den Inhalt meiner Aktentasche über meinen Schreibtisch. „Was ist eine Viertelstunde gegen die zwei Stunden, die ich gestern länger arbeiten musste, um mit Frau Baral Ihre neue Software zu installieren?“ Doktor Glattarsch belauerte mich misstrauisch. Bis er wortlos in seinem Büro verschwand. Er schlug die Tür hinter sich zu.
Eva hatte an diesem Tag zweimal bei Schäfer im Büro zu tun. Beide Male verwöhnten wir einander mit verschworenem Lächeln, als sie an meinem Schreibtisch vorbeiging; und einmal warfen wir uns sogar Kusshände zu. „Mach dich auf
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