Sturmherz
schieben und sie langsam sterben sehen. Im Geiste fühlte ich runzlige, trockene Haut unter meinen Fingern, durch die beinahe die Knochen brachen. Ich küsste ausgedörrte Lippen und strich über weißes Haar, um die Frau, die ich liebte, schließlich mit mir in das Meer zu nehmen. Am Ende ihres kurzen Daseins, wenn es für sie nur noch Leid gab.
Warum schenkt die Natur ihren Geschöpfen so unterschiedliche Lebensspannen? Ich hatte nie erfahren, wie alt meine Spezies tatsächlich werden konnte. Unsere Kindheit war schnell vorüber, und nach der ersten Verwandlung, die meist im jungen Erwachsenenalter geschah, alterten wir nicht mehr. Zumindest nicht, solange wir uns verwandelten. Möglicherweise bedeutete das Unsterblichkeit. Wenn jemand in meiner Herde gestorben war, dann aus freiem Willen oder wegen eines Raubtiers.
Gäbe es nur eine Möglichkeit, diese Fähigkeit auf Mari zu übertragen. Ich wollte die alte Frau im Rollstuhl nicht ansehen, ich wollte ihre Schwäche und Hilflosigkeit ausblenden, doch der Anblick hielt mich fest wie die Nesselfäden der Feuerqualle einen kleinen Fisch. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich starrte auf das glänzende Wasser und fühlte den Drang, mich hineinzustürzen. Ich wollte wegschwimmen. Weg vom Land und weg von dem unausweichlichen Lauf der Dinge. Ob ich es getan hätte, wäre mein Fell bei mir gewesen? Vermutlich nicht. Denn der Drang, in Maris Nähe sein zu wollen, überstrahlte alles andere.
Müde räkelte sie sich in meinen Armen und gähnte. So warm, so lebendig.
„Noch einen Kaffee?“
„Gerne.“ Ich wusste nicht warum, aber in einem heißen Kaffee mit viel Milch und Zucker lag eine Menge behaglicher Trost. Das war damals so gewesen, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.
„Prima. Bin gleich wieder da. Nicht weglaufen.“
Ich sah ihr dabei zu, wie sie in das Café entschwand. Ihre Hüften schwangen anmutig hin und her, als schwebe sie auf Wolken. Der Wind roch nach Leben und Vergänglichkeit, in sein Salzaroma mischte sich der Geruch nach totem Fisch und verrottendem Tang. Die Übelkeit in meinem Magen wollte weiter aufsteigen, wollte mich in die Flucht schlagen und meine Hoffnungen verspotten. Aber ich schob sie zurück. Für ein paar weitere Stunden des Glücks. Vielleicht auch für ein paar Tage. Nimm, was das Schicksal dir schenkt , sagte eine Weisheit der Selkies. Und akzeptiere, wenn es dir wieder genommen wird .
Dunkle Wolken zogen über den Himmel und erinnerten mich an die dickbäuchigen Segelschiffe vergangener Zeiten. Mari warf ihnen einen kritischen Blick zu, als sie zu mir zurückkehrte, zwei dampfende Becher in der Hand.
„Sieht so aus, als gäbe es gleich was.“ Rittlings setzte sie sich auf die Mauer, das Gesicht mir zugewandt. „Aber ich schätze, Selkies haben nichts dagegen, nass zu werden.“
Ich zuckte nur die Schultern, schlürfte meinen Kaffee und starrte sie an. Studierte jede ihrer Gesten. Unglaublich, dass ich hier saß. Mit ihr. Unter all den Menschen am Rand einer belebten Uferpromenade. Ich hatte befürchtet, dass man meine wahre Natur erkennen würde, an irgendeiner Kleinigkeit, die in das Unterbewusstsein der Menschen sickerte, aber sie liefen einfach an mir vorüber.
Als das erste Donnergrollen ertönte, wollte Mari in das Innere des Cafés flüchten. Sanft hielt ich sie am Arm fest, zog sie wieder zurück und schloss sie in meine Arme. Sie zu berühren, glich einem Rausch. Über uns wurde der Himmel schwarz. Blitze zuckten, grollender Donner rollte über die Stadt und das Meer. Ein Echo der Gefühle, die in mir tobten. Ich weigerte mich, das Unwetter als Zeichen zu sehen, und wenn es doch eines war, dann vereinte es nur meine Gefühle mit den Elementen. Mari schauderte. Ihre Arme überzogen sich mit Gänsehaut, der Geruch nach salziger, verschwitzter Haut vereinte sich mit dem fruchtbaren Aroma des Regens. Erwartungsvoll rumorten die Wellen.
Als sich die Schleusen des Himmels öffneten, drückte sich Mari zitternd an mich. Begleitet von einem gewaltigen, rumpelnden Donner fiel eine wahre Sturzflut auf uns herab. Binnen zweier Atemzüge waren unsere Kleider durchweicht, unser Haar klatschnass, unsere Haut mit Tropfen bedeckt. Die Menschen flüchteten, doch wir blieben sitzen. Mari zitterte immer heftiger.
„Ist dir kalt?“, flüsterte ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
Ihre Lippen öffneten sich. Sie seufzte, so leise und sehnsüchtig, dass es wie eine Illusion das Rauschen des Regens
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