Sturmjäger von Aradon - Magierlicht - Nuyen, J: Sturmjäger von Aradon - Magierlicht
angestrengt aus der Dunkelheit. Saraide bebte. Sie musste sich ebenfalls vor ihm verschließen – er durfte sie nicht finden und überraschen. Das Totenlicht hatte Anetán das Leben gekostet. Dafür würde Saraide diejenige sein, die das Tiefe Licht beschwor. Es war sein Wille gewesen. Sie würde Mercurin töten, und den Isen sowieso, sie würde jeden töten, der sich jetzt Anetáns letztem Willen in den Weg stellte.
Wie im Traum verließ sie Anetáns Leichnam. Bald würde der Schnee ihn zudecken. Sein Körper, sein Blick, seine Stimme – verloren. Für immer. Aber sein Funke war heimgekehrt ins Licht des Lebens und dort begleitete er Saraide. Sie spürte ihn noch an ihrer Seite. Verzeih mir, dachte sie. Immer wieder wiederholte sie diese Bitte wie ein Gebet: Verzeih mir. Verzeih mir! Ihr sanftmütiger Bruder verzieh ihr; er hatte ihr schon in dem Augenblick verziehen, als sie die Hand von ihm gelöst hatte, um nach ihrem Dolch zu greifen. Aber woher kam dieses grauenhafte Gefühl der Schuld, des Zorns? Wieso verzieh er ihr denn einfach? Wieso hatte er sich nicht gewehrt und verhindert, dass sie mit dieser unerträglichen Schuld zurückblieb?
Saraide merkte, wie das Wimmern wieder in ihre Kehle schwappte, aber sie durfte es jetzt nicht zulassen. Sie hatte eine Aufgabe. Anetán war tot, sie hatte ihn erstochen. Na und?, rief eine Stimme in ihr, die sie verteidigen wollte gegen einen unsichtbaren Ankläger. Sie würden doch sowieso alle vergehen. Wenn sie die vier Totenlichter in sich geeint hatte, würde auch sie der Macht des Tiefen Lichts erliegen und alles Menschliche an ihr vergehen. Anetán war eben früher gegangen. Was machte es für einen Unterschied?
Aber all diese Worte konnten sie nicht von jenem Gefühl der Schuld befreien, das sie quälte.
Das Totenlicht war es, das Saraide von Anetán fortzog. Aus dem Nichts tauchte Karat wieder in ihr auf, unmittelbar, als wäre er soeben vor ihr im Schneetreiben erschienen.
Er suchte das Totenlicht. Darum war er hier. Aber er wusste nicht, dass sie es bereits in sich trug …
Ohne zu wissen, wohin ihre Füße sie trugen, setzte Saraide ihren Weg in die Gebirge fort. Das Totenlicht hauchte ihr den Weg zu. Wie an Seidenfäden zog sie sich in Karats Nähe.
Es wurde dunkel, aber Saraide sah die Umgebung jetzt vor Leben leuchten. Alles war so viel deutlicher geworden. Sie war eingeweiht in alle Geheimnisse des Landes. Sah den trägen Puls der Gebirge und ihren Atem, der als Funkenstaub in die schwarze Nachtluft stieg.
Fasziniert glitt Saraide durch die Gebirge, tastete sich an Eisspalten vorbei und ließ schroffe Hänge vor sich aufgleiten, damit sie weiterkam. Wie einfach es ihr fiel! Das Land musste nicht mehr ihrem Willen gehorchen; sie war das Land. Ihre Hände fuhren über Eiszapfen und mit den Fingerspitzen nahm sie Lirium auf, stillte ihren Hunger und Durst, bis sie wieder ganz bei Kräften war. Die Müdigkeit und alle Schmerzen ihres schwachen Körpers blätterten von ihr ab, bis nichts von ihr übrig blieb als ein roher, leuchtender Kern, ein schwelendes Herz.
Wie lange Saraide so durch die Eiswüste ging, wusste sie nicht. Die Zeit war langsamer, unwichtiger geworden. Was waren schon Stunden, Nächte und Tage für die Ewigkeit des Landes? Doch mit einem Schlag fand sie in die Zeit zurück, als der Ise für sie sichtbar wurde.
Im Zwielicht des nahenden Morgens war seine Gestalt kaum auszumachen, doch Saraide fixierte ihn, bis er ganz nahe war.
Auf einem Klippenvorsprung stehend, blickte sie auf ihn herab. Mit schleppenden Schritten ging er bergauf, folgte irgendeiner Spur. In seiner Hand lag ein Krummschwert, das er seltsam steif vor sich hielt wie eine Leine, an der ein unsichtbarer Spürhund ging. Saraide hob die Hände. Konnte es so einfach sein? Sie spreizte die Finger. Der Hang begann zu beben, von weiter oben löste sich grollend eine Lawine.
Der Ise stakste weiter, als sähe und hörte er nichts. Weiße Massen warfen sich ihm entgegen. Saraide hielt den Atem an. Der Ise versank in der Lawine, wurde fortgerissen. Saraide sah, wie sein Krummschwert mit einem Aufblitzen im Schnee unterging.
Als alles wieder still war, kletterte Saraide den Vorsprung herab und suchte nach der Stelle, wo der Ise verschüttet worden war. Abermals öffnete sie die Hände. Die Schneekörner wehten auf, entblößten nach und nach den reglosen Körper des Isen.
Es war ein grässlicher Anblick. Seine Augen waren weit aufgerissen und die Wimpern von Eiskristallen
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