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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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hergekommen, als Sie glauben, Dr. Hargrave. Joshua hat mich darum gebeten.«
    Sie wartete stumm.
    »Dieses Schreiben ist von Joshua«, fuhr Mark fort und hielt ihr den Brief hin. »Er bat mich, es Ihnen zu bringen.«
    Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie den Brief. »Danke, Dr. Rawlins.«
    Ihre Hände zitterten, als sie den Umschlag aufriß, und als sie den Bogen Papier entfaltete, sah sie sogleich, daß er nicht mit Joshuas Hand beschrieben war.
    ›Meine liebe Samantha‹, begann das Schreiben, ›wenn Du diesen Brief {200} liest, bist Du gerade frischgebackene Ärztin. Ich gratuliere Dir von Herzen. Es tut mir leid, daß ich nicht selbst zu Deinem großen Tag kommen kann, sondern mich von Mark vertreten lassen muß, aber ich bin schon jetzt zu schwach, um selbst zu schreiben, und wenn Du diesen Brief bekommst, werde ich tot sein.‹
    Den Kopf gesenkt, starrte sie wie blind auf die letzten Worte. Im Hintergrund hörte sie wie aus weiter Ferne Mr. Kendalls dröhnende Stimme, dann schallendes Gelächter.
    »Entschuldigen Sie mich, Dr. Rawlins, aber ich kann hier nicht lesen …«
    Ohne auf seine Erwiderung zu warten, lief sie zur Tür hinaus, griff in der Halle automatisch nach ihrem Cape und rannte, den Brief in der Hand, die Treppe hinunter.
     
    Der späte Nachmittag warf lange Schatten, als sie die Lichtung erreichte. Sie setzte sich auf den sonnenwarmen Baumstamm und las im vergehenden Licht Joshuas Brief zu Ende.
    ›Marks Diagnose lautet Herzklappenentzündung. Louis Pasteur in Paris würde sagen, daß sie durch Bakterien an der Injektionsnadel verursacht wurde. Vielleicht hätte er recht. Wer kann heute in der Medizin noch sagen, was richtig und was falsch ist? Wir haben in unserer Unwissenheit unverzeihliche Fehler gemacht. Infolge der Unwissenheit der Ärzte wurde ich süchtig; hätten sie damals gewußt, was wir heute wissen, ich wäre nicht in dieser elenden Situation. Es muß sich etwas ändern. Wir Ärzte haben die heilige Pflicht, nur das Rechte zu tun. Die Medizin aber befindet sich noch im finstersten Mittelalter, und wir sind kaum mehr als Scharlatane.
    Ich schreibe Dir diesen Brief, Samantha, um Dir ein Versprechen abzunehmen. Und ich weiß, daß Du mir diesen letzten Wunsch erfüllen wirst. Bemühe Dich, Licht in das Dunkel zu bringen, Samantha. Kämpfe für das, was recht und richtig ist. Vergrabe Dich nicht in einer obskuren kleinen Praxis, wie ich das tun mußte. Jeder zweitklassige Arzt kann leisten, was ich geleistet habe. Aber Du bist zu Größerem bestimmt. Ich kenne Deine Fähigkeiten, Samantha. Setze Dein Wissen und Deine Kraft ein, um die medizinische Wissenschaft zu fördern. Lerne weiter, gib Dich nicht mit dem Diplom zufrieden. Ich möchte so gern in dem Wissen sterben, daß ich an der Vollendung einer Ärztin teilhatte, die fähig ist, etwas zu verändern.
    Ich hinterlasse Dir meine Instrumente, Samantha. Mark hat sie in Verwahrung genommen. Ich vertraue darauf, daß Du sie besser einsetzen wirst, als ich es tat.
    {201} Wir waren nie füreinander bestimmt, meine Liebste. Leb wohl, Samantha. Was es noch zu sagen gibt, wird Mark Dir mitteilen.‹
    Das Gekritzel am Ende des Briefes hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit Joshuas Unterschrift.
    Sie las den Brief noch einmal, obwohl es inzwischen so dämmrig geworden war, daß sie die Buchstaben kaum noch erkennen konnte. Ihre Tränen fielen auf das Papier und verwischten die Tinte. Als sie in der Nähe einen Zweig knacken hörte, hob sie den Kopf. Dunkel wie ein Schatten kam Mark auf sie zu.
    Sie sagte nur ein Wort. »Wann?«
    »Vor sechs Wochen.«
    Als wäre es von größter Wichtigkeit, versuchte Samantha krampfhaft, sich zu erinnern, was sie vor sechs Wochen getan hatte, was sie zur Stunde von Joshuas Tod gedacht hatte.
    »Es ging sehr schnell, und er hatte keine Schmerzen«, fügte Mark hinzu.
    »Als er merkte, daß es dem Ende zu ging, ließ er mich holen. Er litt sichtlich, aber er lehnte jede Behandlung ab. Er wollte nur eine Digitalisspritze, um noch diesen Brief diktieren zu können. Er wollte sterben.«
    »Warum?« fragte Samantha leise. »Warum wollte er sterben?«
    Mark setzte sich zu ihr auf den Baumstamm. Hell fiel das Mondlicht durch die Bäume und übergoß Samanthas tränennasses Gesicht mit blassem Licht.
    »Ich habe mich beinahe noch mit ihm gestritten«, sagte Mark. »Er bat mich, Ihnen etwas mitzuteilen. Ich wollte nicht. Aber er behauptete, Sie müßten es wissen. Sie würden schon wissen, warum.« Marks Stimme

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