Sturmjahre
Samantha. »Bewegung und frische Luft brauchst du gerade jetzt. Das täte dir gut.«
Louisa starrte sie entgeistert an. »Aber Samantha! Ich kann doch so nicht auf die Straße gehen. Was würden denn die Leute von mir denken?«
»Louisa, die Schwangerschaft ist keine Krankheit. Es gibt keinen Grund, warum eine werdende Mutter sich nicht Bewegung und frische Luft gönnen sollte. Wir könnten gemeinsam etwas unternehmen, so wie früher, Louisa. Erst essen wir bei Macy’s zu Mittag und dann gehen wir ins Hotel Everett und schauen uns die neuen Glühlampen von Mr. Edison an. Hundert Lampen, Louisa, du wirst staunen.«
Sie zeigte schwaches Interesse. »Und wann gehen wir?«
»Wann? Ach, ich weiß nicht. Ich habe jeden zweiten Sonntag frei, aber dann muß ich waschen und flicken …«
»Ist ja auch gleich, Samantha. In dem Zustand kann ich sowieso nicht ausgehen. Vielleicht wenn das Baby da ist …« Ihr Gesicht verschloß sich {218} und ein Gedanke kam ihr in den Sinn, der ihr in letzter Zeit häufig durch den Kopf gegangen war. Ich kann nirgends hingehen, und ich habe keine Freundinnen. Niemand hat Zeit für eine Frau, die ein Kind erwartet. Aber wenn das Baby sterben würde, dann würden sich alle um mich kümmern. Oder wenn Luther bei einem Unfall ums Leben kommen würde, dann wäre ich Witwe, und alle würden mich mit großer Teilnahme behandeln, und ich brauchte nie wieder zu heiraten und Kinder zu bekommen.
Ohne sich dessen bewußt zu sein, ließ Louisa ihre Gedanken in ihre nächsten Worte einfließen. »Also, ich mache das jedenfalls nicht mehr mit. Luther wird sich daran gewöhnen müssen, ohne das zu leben. Und wenn er seine Begierden unbedingt befriedigen muß, kann er sich ja eine von den vielen Frauen nehmen –«
Sie war selbst erschrocken über den harten Klang ihrer Stimme, und als sie Samanthas Blick gewahrte, schämte sie sich tief. Sie geriet ins Stottern und brach in peinlicher Verlegenheit ab.
Um den Moment zu überbrücken, sagte Samantha: »Es ist wirklich warm heute. Ich würde mich gern ein bißchen frisch machen. Sagst du mir, wo das Badezimmer ist?«
Louisa wies stumm in den Flur, der zum rückwärtigen Teil des Hauses führte. Samantha, die sah, daß Louisas Glas leer war und der Kuchen aufgegessen, stellte das Geschirr auf das Tablett und nahm es mit in die Küche.
Die Küche war mit allen Einrichtungen ausgestattet, die eine Frau sich wünschen konnte, aber Louisa schien das nicht zu schätzen. Alles war so unordentlich und vernachlässigt wie im Wohnzimmer. Auf dem Tisch sah Samantha die beiden leeren
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Flaschen stehen. Daneben lag einer der raffinierten neuen ›automatischen‹ Dosenöffner. Zerstreut nahm sie ihn zur Hand und drehte ihn hin und her. Dabei fiel ihr Blick auf eine dritte Flasche, die neben dem Spültisch stand. ›Dr. Pooles Beruhigungssirup für werdende Mütter‹. Samantha legte den Dosenöffner weg, entkorkte die Flasche und roch an der Öffnung. Ein widerlich süßer Geruch stieg er entgegen, der jedoch nicht ganz überdecken konnte, was er gewiß sollte: daß Dr. Pooles Beruhigungstrank ein Rauschmittel enthielt, das Samantha allerdings auf Anhieb nicht identifizieren konnte.
Einen Augenblick später stand sie im modern eingerichteten Badezimmer – die Arndts hatten sogar eine der neuen Toiletten mit Wasserspülung – und drückte sich ein feuchtes Tuch in den Nacken. Neben Luthers Rasierzeug stand eine Flasche Dr. Raphaels Stärkungstrunk für Männer, die sich ihre Männlichkeit lange bewahren wollen.
{219} Was war mit den beiden unbeschwerten Freunden geschehen, mit denen sie ihre Sonntage verbracht hatte? Sie kamen Samantha plötzlich wie Fremde vor. Sie und Louisa hatten kaum noch etwas gemeinsam; lange Pausen des Schweigens schlichen sich in ihr Gespräch ein. Louisa brauchte andere Freundinnen, verheiratete Freundinnen, Frauen mit Kindern.
Samantha faltete den Waschlappen ordentlich und hängte ihn über seinen Halter. Unsere Wege trennen sich, Louisa. Siehst du es auch? Bist du deshalb so zornig auf mich und die Welt? Wenn das Kind erst da ist, wird die Kluft so groß werden, daß wir sie nicht mehr überbrücken können. Gibst du auch daran Luther die Schuld?
Sie hörte das Klappen der Haustür. Nachdem sie sich noch einmal ordnend über das Haar gestrichen hatte, ging sie in den Flur hinaus. Luther kam ihr entgegen und drückte ihr mit freundschaftlicher Herzlichkeit die Hand. Er hatte sich nicht verändert, war so warm und
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