Sturmjahre
legte {229} ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Wenn das Kind erst da ist, wird sie alles ganz anders sehen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nach dem, was sie jetzt durchmacht, wird sie nicht nur das Kind hassen, sondern auch mich.«
Samantha sah ihn stumm an und dachte, es kann gut sein, daß er recht hat.
»Samantha«, sagte er leise. »Ich möchte bei ihr sein. Sie soll das nicht ganz allein durchstehen müssen.«
Samantha zögerte. Auf dem Land war es durchaus üblich, daß die Männer ihren Ehefrauen bei der Geburt beistanden, da dachte sich niemand etwas dabei. Aber in der Stadt billigte man den Männern dieses Recht nicht zu. Da schrie man, es sei unanständig und unmoralisch. Selbst Ärzte wurden bei einer Geburt nur widerwillig geduldet. Geburten waren Frauensache; Männer hatten sich da nicht einzumischen.
Samantha dachte an Dr. Prince und die Soiree. Dann dachte sie an Mrs. Marchand, die oben bei Louisa war. Sie würde Luther niemals ins Zimmer lassen. Plötzlich wußte Samantha, was sie zu tun hatte.
Mrs. Marchand sprang entrüstet auf, als sie Luther hinter Samantha ins Zimmer kommen sah. Samantha hob nur warnend die Hand und sagte leise: »Mr. Arndt wird seiner Frau beistehen.«
Mit zusammengekniffenen Augen und mißbilligend verzogenem Mund beobachtete die Hebamme, wie Luther neben dem Bett seiner Frau niederkniete und Louisa sachte über die schweißfeuchte Stirn strich.
Luthers Anwesenheit schien Louisa tatsächlich zu trösten und zu beruhigen. Auf Samanthas Bitte blieb Mrs. Marchand im Zimmer und setzte sich mit ihrem Strickzeug in eine Ecke.
Als die Wehen stärker wurden, begann Louisa zu schreien. »Laß mich nicht sterben. Ich will nicht sterben!«
Als endlich das Köpfchen des Kindes zum Vorschein kam, sagte Samantha: »Jetzt kommt euer Kind, Luther. Komm, setz dich hierher und halte die Hände so …«
»Schau«, sagte Samantha leise, als Louisa unter dem Ansturm der nächsten Wehe aufschrie, »da ist der Kopf.«
Luther war schweißgebadet.
»So, Luther, jetzt ist es gleich soweit.« Samantha nahm seine Hände und brachte sie in die richtige Lage, die eine oben, die andere unten, als sollten sie einen Ball auffangen.
Das Köpfchen stieß vor und zog sich wieder zurück; stieß erneut vor und wich erneut zurück; bei jeder Wehe preßte Louisa abwärts. Luther hielt {230} seine Hände, wie Samantha ihm gezeigt hatte, und als der kleine Kopf plötzlich herausstieß, reagierte er sofort. Er hob die untere Hand, um das Gesichtchen zu bergen, während er mit der oberen den weichen kleinen Schädel schützte. Er sah aus wie ein Mensch, der unter einem Bann steht, und seine Hände reagierten wie von selbst, als leisteten sie eine Arbeit, die ihnen schon immer vertraut gewesen war. Er zog nicht am Kopf des Kindes, wie Samantha befürchtet hatte, sondern wartete geduldig mit ausgestreckten Händen, bis die nächste Wehe kam. Als dann eine kleine Schulter sich durch die Öffnung zwängte, beugte er sich vor, streckte die untere Hand ganz flach aus und nahm auf ihr das Kind auf, das den Mutterleib nun verließ.
Samantha wollte etwas sagen, doch Luther reagierte schon, ehe sie ein Wort hervorbringen konnte. Mit einem frischen Tuch wischte er dem Neugeborenen Mund und Nase und gab ihm dann instinktiv ein paar leichte Klapse auf den Rücken. Das Kind begann zu schreien.
»Ist es ein Junge?« keuchte Louisa.
Jetzt griff Samantha ein, band die Nabelschnur ab und durchtrennte sie. Sobald sie fertig war, wickelte Luther das Kind in eine Decke und drückte das kleine Bündel zärtlich an seine Brust. Dann stand er mit zitternden Knien auf und ging zu Louisa.
»Ja, Louisa«, flüsterte er, während er ihr das Kind in die ausgestreckten Arme legte, »wir haben einen kleinen Jungen.«
»Einen Jungen! Wir haben einen Jungen!« Louisa hielt das Kind hoch, so daß sie ihm in das zerknitterte kleine Gesicht sehen konnte und lachte selig. »Ach, Luther, er sieht genau aus wie du …«
Samantha lachte mit ihr. Dann fiel ihr Blick auf die Uhr auf der Kommode. Sie konnte es kaum glauben: Es war drei Uhr morgens.
Luther bestand darauf, sie ins Krankenhaus zurückzubegleiten. Trotz der späten Stunde gelang es ihnen, eine Droschke aufzutreiben.
»Sie liebt das Kind jetzt schon, Samantha«, sagte Luther glücklich, während der Wagen durch den dichten Nebel Manhattans zuckelte. »Und jetzt glaube ich, daß sie mich auch liebt.«
»Sie hat dich immer geliebt«, erwiderte Samantha
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