Sturmjahre
nein«, antwortete sie, ohne sich näher zu dem Thema zu äußern. Samantha war nicht bereit, Mark Rawlins einzugestehen, daß sie für ihre berufliche Durchsetzungskraft mit tiefer Einsamkeit bezahlen mußte. Ihre Kollegen hatten sie zwar akzeptiert, viele bewunderten ganz offen ihren Mut, aber sie hatte in ihren Kreis keinen Eingang gefunden. Gerade weil sie die einzige Frau in ihrer Mitte war, bemühten sich die jungen Ärzte um besondere Höflichkeit und Rücksichtnahme und achteten streng darauf, Samantha nach der Arbeitszeit nicht zu stören. Eingedenk der gesellschaftlichen Konventionen wäre es ihnen nicht eingefallen, sie abends in ihre gesellige Runde einzuladen, obwohl Samantha sich manchmal nichts sehnlicher wünschte.
Janelle warf Mark einen mahnenden Blick zu.
»Verzeih, meine Liebe«, sagte er sofort. »Du hast völlig recht, wir müssen uns auf den Weg machen. – Dr. Hargrave, Miss MacPherson ist Präsidentin des Frauenwohltätigkeitsvereins, und das St. Brigid’s Krankenhaus gehört zu den Spendenempfängern des Vereins. Da ich zum Stab dieses Krankenhauses gehöre, hat man mich eingeladen, an der Vereinssitzung heute nachmittag teilzunehmen.«
Samantha nickte höflich. »Ach, wirklich?« sagte sie. »Sie gehören dem Ärztestab am St. Brigid’s an? Ich habe Sie noch nie hier gesehen.«
»Das St. Brigid’s ist für die meisten meiner Patienten etwas abgelegen. Ich arbeite darum meistens im St. Luke’s Krankenhaus. Aber von Zeit zu Zeit benutze ich die hiesige Chirurgie. Sie verfügt über hervorragende Einrichtungen. Haben Sie das nicht auch festgestellt?«
»Ich hatte noch nicht die Gelegenheit dazu, aber sie wird sicher kommen. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich muß zur Visite. Auf Wiedersehen, Miss MacPherson, auf Wiedersehen, Dr. Rawlins.«
{226} 4
Samantha blickte auf die kleine Uhr in ihrer Hand, und als der Zentralsekundenzeiger die zwölf erreichte, legte sie die Uhr aus der Hand und nahm das Skalpell. Schnelligkeit war von entscheidender Wichtigkeit; auch wenn der Patient narkotisiert war, bestand immer das Risiko, daß er plötzlich starb. Drei saubere Schnitte, dann legte Samantha das Skalpell weg und ergriff die Säge. Jetzt kam der heikle Teil.
Sie tastete nach dem Retraktor; er fiel ihr aus der Hand und landete klirrend auf dem Boden. »Verflixt«, flüsterte Samantha und schleuderte das Kissen ärgerlich aufs Bett zurück.
Beine und Rücken taten ihr weh. Sie dachte daran, für diesen Abend Schluß zu machen. Aber dann fiel ihr Blick auf den Koffer, der offen auf dem Boden stand, und auf das silberne Schild, in das der Name ›Joshua Masefield, M. D.‹ eingraviert war. Also gut, Samantha, dachte sie, das ganze noch einmal von vorn.
Es war alles ziemlich schwierig, aber Samantha war entschlossen, sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Nachdem Jake ihr auf ihre Bitte Joshuas Instrumente bei Mark Rawlins abgeholt hatte, hatte Samantha sich das beste Chirurgielehrbuch gekauft, das sie finden konnte, hatte sich mit jedem einzelnen Instrument und dem Teil der Anatomie, für den es gebraucht wurde, gründlich vertraut gemacht und dann mit dem Selbstunterricht begonnen. Einzige Hilfen waren ihr die Instrumente, das Buch und ein Kissen, das inzwischen so oft aufgeschnitten und wieder zugenäht worden war, daß sie nachts ziemlich unbequem darauf lag.
Wieder beugte sie sich über das Kissen und machte sich an die Arbeit. Von draußen drangen Banjomusik und das Gelächter ihrer Kollegen in ihr Zimmer.
Samantha glaubte zuversichtlich daran, daß es ihr gelingen würde, die Operationstechnik zu meistern. Im Grunde konnte jeder, der ein Mindestmaß an Ausbildung genossen hatte, die Operationen durchführen, an die man sich zu dieser Zeit heranwagte. In erster Linie arbeitete man an den Gliedmaßen. Operationen im Bauchraum gab es nicht, abgesehen einzig von der Ovariektomie, einem raschen Eingriff durch eine winzige Öffnung.
Während Samantha mit der Knochensäge arbeitete, dachte sie, welch ein Durchbruch es wäre, wenn endlich eine Möglichkeit entdeckt werden würde, den Bauchraum gefahrlos zu öffnen. So viele Menschen könnten gerettet, so viele Tragödien abgewendet werden.
Sie fuhr zusammen, als es an ihrer Tür klopfte. »Ja?«
{227} »Dr. Hargrave«, rief Mrs. Knight, »Dr. Prince möchte Sie sprechen. In seinem Büro.«
Sie packte die Instrumente ein, schob den Koffer unter ihr Bett und machte sich auf den Weg zu Dr. Prince.
Dr. Prince nahm absichtlich
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