Sturmjahre
keine Notiz von ihr, nachdem sie eingetreten war. Er ließ sie einfach stehen, während er in irgendwelchen Papieren auf seinem Schreibtisch kramte. Als er schließlich den Kopf hob, fixierte er sie mit kaltem Blick.
»Dr. Hargrave, jedes Jahr organisieren die Mitglieder eines bekannten Wohltätigkeitsvereins eine Benefizveranstaltung zugunsten verschiedener New Yorker Krankenhäuser. Auf dieser Veranstaltung wird jeweils bestimmt, welches der Krankenhäuser die Mittel erhalten soll, die der Verein aufgebracht hat. Zu unserem Bedauern ist die Wahl in den letzten Jahren niemals auf das St. Brigid’s gefallen, aber in diesem Jahr besteht eine gute Chance, daß uns die Spende zugesprochen werden wird. Im allgemeinen sind Assistenzärzte zu dieser Veranstaltung nicht geladen; aber man ist offenbar neugierig auf Sie, Dr. Hargrave, und bittet um Ihre Teilnahme.«
Er sah sie erwartungsvoll an, doch sie hüllte sich in Schweigen.
»Einige einflußreiche Mitglieder des Vereins drängen schon seit langem auf die Aufnahme von Ärztinnen in das Krankenhauspersonal. Es handelt sich fast durchweg um Damen der guten Gesellschaft, die sich offen zur Frauenbewegung bekennen. Diese Damen haben um Ihre Teilnahme an der Veranstaltung gebeten. Sie möchten Sie kennenlernen. Ich habe den Damen Ihr Kommen zugesagt. Das Fest findet morgen in einer Woche statt. Als Ihren Begleiter habe ich Dr. Weston bestimmt. Ich erwarte von Ihnen beispielhaftes Verhalten, Dr. Hargrave. Die Finanzierung dieses Krankenhauses liegt gewissermaßen in Ihrer Hand.«
Als sie sich zum Gehen wandte, fügte Dr. Prince in scharfem Ton hinzu: »Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, Dr. Hargrave, daß Ihr Erscheinen an diesem Abend von größter Wichtigkeit ist. Und ich bitte mir absolute Pünktlichkeit aus.«
Samantha lächelte vergnügt vor sich hin, während sie ihr graues Seidenkleid zuknöpfte, das sie das letzte Mal bei der Abschlußfeier in Lucerne getragen hatte. Sie wußte genau, was sie tun würde. Wenn Prince ihre Hilfe wollte, sollte er auch dafür bezahlen.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die Straßenlampen brannten schon. Sie sahen aus wie gelbe Pusteblumen im grauen abendlichen Nebel.
{228} »Ja, Mrs. Stuyvesant«, sagte Samantha halblaut. »Ja, es gefällt mir gut am St. Brigid’s. Es war wirklich entgegenkommend, mich in das Assistenzprogramm aufzunehmen. Aber leider regiert auch hier noch das männliche Vorurteil. Obwohl ich den Wunsch geäußert habe, am chirurgischen Ausbildungsprogramm teilzunehmen, verweigert man mir –«
Es klopfte.
»Wer ist da?«
»Im Foyer wartet jemand auf Sie, Dr. Hargrave«, antwortete eine der Schwestern.
Samantha sah auf die kleine Taschenuhr an ihrem Mieder. Dr. Weston würde bald kommen, um sie abzuholen. »Wer denn?«
»Ein Mr. Arndt. Er sagt, es wäre dringend.«
Luther!
Er lief ihr erregt entgegen, als sie hinunterkam. Louisa verlange nach ihr, erklärte er. Sie läge in den Wehen und rufe unentwegt nach Samantha. Ja, eine Hebamme sei da, aber Louisa wolle sich nicht von ihr helfen lassen.
Samantha rannte wieder zu ihrem Zimmer hinauf, klebte an die Tür einen Zettel für Dr. Weston – daß er vorausgehen solle; sie würde später nachkommen –, packte ihr Cape und ihr Köfferchen und lief wieder zu Luther hinunter.
Zunächst verstand Samantha nicht, warum Louisa sie hatte holen lassen. Eine Untersuchung zeigte ihr, daß der Geburtsverlauf bisher völlig normal war, mit Komplikationen nicht zu rechnen war. Die Hebamme war eine energische Frau, sauber gekleidet und mit rosig geschrubbten Händen, offensichtlich tüchtig und erfahren. Aber als Samantha die nackte Angst in Louisas Augen sah, begriff sie, warum Louisa sie brauchte.
»Du brauchst dich nicht zu sorgen, Louisa. Es ist alles bestens. Die Lage des Kindes ist normal, alles ist so, wie es sein sollte.«
»Samantha!« Louisa umklammerte krampfhaft ihren Arm. »Ich muß sterben. Ich weiß es. Ich habe so schreckliche Träume gehabt. Ich werde es nicht überstehen.«
Samantha bemühte sich, ihre Besorgnis nicht zu zeigen. »Ich komme gleich wieder zu dir, Louisa. Inzwischen ist Mrs. Marchand hier.« Sie löste Louisas Finger von ihrem Arm und ging nach unten.
Luther saß in der unaufgeräumten Küche, niedergeschlagen und völlig in sich zusammengesunken. Mit trübem Blick sah er zu ihr auf. »Sie will das Kind nicht haben, Samantha. Sie haßt es.«
»Louisa hat nur Angst, Luther.« Samantha setzte sich zu ihm und
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