Sturmjahre
aufrechterhalten. Tief im Innern fühlte sie, daß er tot war, wußte auch, daß mit ihm ein Teil von ihr gestorben war.
Ihr Unglück nahm neue Dimensionen an, als sich das, was sie bisher nur vermutet hatte, bestätigte: Sie war schwanger.
Und sie konnte mit niemandem darüber sprechen. Louisa und Luther waren nach Ohio gereist, um den kleinen Johann seinen Großeltern zu präsentieren. Am Krankenhaus gab es keinen, dem sie sich hätte anvertrauen können. Sie hatte zweimal versucht, Mrs. Rawlins zu sehen, war aber jedesmal vom Butler abgewiesen worden, der ihr mit steinerner Miene erklärte, die Familie sei in Trauer und empfange keinen Besuch.
Janelle war es, der Ärzte und Pflegerinnen, als sie, ganz in Schwarz, ihre Schwester besuchte, ihr Beileid aussprachen. Samantha fühlte sich betrogen. Nie in ihrem ganzen Leben war sie so einsam und verlassen gewesen.
Letitia erholte sich von Tag zu Tag ein klein wenig und war schließlich außer Gefahr.
Es wäre ein Wunder, sagten alle. Ärzte und Schwestern feierten Samantha und ihre bahnbrechende Leistung. Die Familie MacPherson holte Letitia nach Hause. Es war, als hätte es nie Differenzen gegeben.
Nur Silas Prince war nicht bereit, zu vergessen.
Am Tag von Letitias Entlassung erhielt Samantha ein Schreiben von ihm, in dem er ihr mitteilte, sie könne einen Widerruf ihrer Entlassung erwirken, wenn sie sich vor aller Öffentlichkeit für den Skandal entschuldige, den sie verursacht hatte.
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Am liebsten hätte sie das Klopfen einfach ignoriert. Ihre Sachen waren gepackt; sie wollte nur noch weg. So schnell wie möglich.
Es war ihr schwer gefallen, aber Samantha hatte ihren Stolz hinuntergeschluckt und sich um des Zertifikats willen bei Silas Prince entschuldigt. Da erst hatte sie erfahren, daß ihre Wiederaufnahme in das Assistenzprogramm an Bedingungen geknüpft war. Silas Prince, der seinen Triumph auskosten und Samanthas Erfolg schmälern wollte, hatte ihr mitgeteilt, man hätte es für erforderlich gehalten, ihre Assistenzzeit zu verlängern. Sie wäre noch nicht so weit, hatte er selbstgerecht erklärt, ihre Pflichten mit dem Verantwortungsbewußtsein zu erfüllen, das man von einem Arzt erwarten müsse; sie müsse noch Loyalität und Gehorsam lernen. Man werde ihr darum das Zertifikat erst in sechs Monaten erteilen.
Landon Fremont, der an Princes Vorschlag nichts auszusetzen fand, hatte Samantha zu überreden versucht, auf ihn einzugehen. Aber ohne Erfolg. Sie könne nicht bleiben, hatte sie nur gesagt, sie müsse gehen, auch wenn sie dann auf das Zertifikat verzichten müsse. Und jetzt stand sie zwischen ihren gepackten Koffern und wartete auf den Wagen, der sie abholen sollte.
Als es nochmals klopfte, ging Samantha zur Tür und machte auf. Janelle MacPherson stand ihr gegenüber. Schweigend sahen sich die beiden Frauen an, und vieles ging zwischen ihnen hin und her. Dann trat Samantha zur Seite, hielt die Tür auf und bat Janelle einzutreten.
»Sie reisen ab?« fragte diese, als sie das Gepäck sah.
Samantha war hin- und hergerissen. Janelle war nur noch eine ehemalige Widersacherin. Der Kampf, den sie mit ihr ausgetragen hatte, war sinnlos geworden. Mark war tot. Janelle war für Samantha nichts anderes als irgendeine Frau. Dennoch fühlte sie sich nicht imstande, sich ihr zu öffnen. Die Wunden gingen zu tief. Sie konnte Janelle nichts von Princes Beschluß sagen; sie konnte ihr nicht sagen, daß sie ihn nicht akzeptieren konnte, weil sie ein Kind erwartete. Darum sagte sie einfach: »Ich möchte fort von hier.«
Janelle öffnete ihren Pompadour und zog ein Blatt Papier heraus, das sie Samantha reichte. »Ich wollte es Ihnen nicht vorenthalten. Es ist ein Telegramm von der Schiffahrtsgesellschaft. Sie bestätigen, daß Marks Name auf der Passagierliste stand, und daß er bei dem Unglück ums Leben gekommen ist.«
Samantha versuchte, den Text zu lesen, aber die Worte verschwammen unter ihren Augen. Sie hob den Blick. »Warum bringen Sie mir das?«
{274} »Damit Sie sich nicht wie ich falsche Hoffnungen machen«, antwortete Janelle mit brüchiger Stimme.
Samantha gab ihr das Telegramm zurück. »Danke.«
»Ich weiß, daß Sie ihn geliebt haben, Dr. Hargrave. Wir haben ihn beide geliebt. Und ich denke, zwischen Ihnen und Mark war mehr als nur eine rein berufliche Beziehung. Ich fürchtete sogar, er könnte Sie lieben, und – in meiner Eifersucht haßte ich Sie.«
Samantha sah sie nur stumm an.
Janelle hob mit einer stolzen Bewegung
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