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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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gegangen und hatte sich eine Kette machen lassen. Der Mann hatte ihr gesagt, der Stein sei sehr alt und zweifellos kostbar.
    Der Stein war Samanthas einzige greifbare Verbindung mit der Vergangenheit. Oft, wenn sie allein war, holte sie ihn unter ihrem Kleid hervor und strich mit den Fingern über seine glatten Flächen. Immer hatte das eine merkwürdig beruhigende Wirkung auf sie.
    In den frühen Tagen nach ihrer Ankunft in San Francisco hatte sich Samantha bitter allein und einsam gefühlt. Damals hatte sie festgestellt, daß eine stille Stunde des Nachdenkens und Sicherinnerns zwar nicht Tröstung, aber doch eine Linderung des Schmerzes brachte. Sachte pflegte sie dabei über den Stein zu streichen, und als wohne ihm ein {279} geheimnisvoller Zauber inne, durchlebte sie dann von neuem in erstaunlicher Lebendigkeit und Detailliertheit Szenen aus ihrem
     vergangenen Leben.
    Sie brauchte nur die Augen zu schließen, und plötzlich war sie wieder am St. Agnes Crescent, Hand in Hand mit Freddy, der sie beschützte, und sie konnte seine helle Jungenstimme so deutlich hören, als befände er sich mit ihr im selben Raum. Oder sie sah sich plötzlich in Joshuas Praxis, in Hannahs Haus in Lucerne, bei Louisas Entbindung, in leidenschaftlicher Umarmung mit Mark …
    Sie machte es sich zur Gewohnheit, gewissermaßen ein paar Schritte zurückzutreten und ihr Leben wie eine geographische Karte zu betrachten, und in der Überschau sah sie, daß in ihrem Leben, so voll und ereignisreich es immer gewesen war, eines fehlte. So wenig sie früher darüber nachgedacht hatte, so sehr beschäftigte sie sich jetzt damit: Ich stehe völlig allein auf der Welt. Ich kann Freunde, Bekannte, sogar Liebhaber haben, aber ich bin niemandem durch Blutsverwandtschaft verbunden.
    Samantha wußte, daß diese Gedanken vor allem durch ihren beruflichen Alltag ausgelöst wurden. Tagtäglich hatte sie in irgendeiner Weise mit Familien zu tun – mit Geburten, mit Müttern und Kindern, mit Geschwistern, mit Verwandten und Angehörigen. Und jeder Tag erinnerte sie daran, daß es auf der ganzen Welt niemanden gab, von dem sie sagen konnte: Wir stammen aus
einer
Familie. Die Hargraves waren alle tot, und von der Familie ihrer Mutter wußte Samantha nichts. Es war, als wäre Samantha Hargrave dem Nichts entsprungen. Ich stehe ganz allein.
    Eine Bewegung an ihrer Seite veranlaßte Samantha, zu dem Kind hinunterzublicken, das mit gefalteten Händen, das Gesicht zur Madonna emporgerichtet, neben ihr kniete. Sie lächelte liebevoll. Nein, nicht ganz allein, dachte Samantha. Nicht ganz allein.
    Auf den Tag genau vor einem Jahr war Samantha auf dem Rückweg von der Mission von der Straße weggeholt worden, um einer Frau in einer der Mietskasernen hinter dem Opernhaus Beistand zu leisten. Als sie in das armselige Zimmer getreten war, hatte sie gerade noch gesehen, wie eine alte irische Hebamme die sterbende Mutter von einem totgeborenen Kind entbunden hatte. In der Ecke stand ein mageres kleines Mädchen mit großen angstvollen Augen und starrte, alle fünf Finger der Hand im Mund, stumm auf die bedrückende Szene. Als die Frau gestorben war, beschwerte sich die Hebamme, daß sie nun den schwachsinnigen Fratz zu sich nehmen müßte. Das Kind hätte weder Vater noch Verwandte.
    »Nicht ganz richtig im Kopf, die Kleine«, hatte die Hebamme gebrummt. »Das einzige von Megans Kindern, das am Leben geblieben ist. Aber sie {280} redet nicht. Starrt einen nur an und macht einen ganz kribbelig damit.«
    Samantha hatte das Kind mitgenommen. Sie hatte nicht herausbekommen, wie alt die Kleine war, schätzte sie aber auf acht Jahre. Sie hieß Jennifer. Samantha adoptierte sie und gab ihr den Namen Hargrave. Wenn wir allein sein müssen, dann wollen wir zusammen allein sein.
    Mit zärtlicher Hand strich Samantha dem kleinen Mädchen, das neben ihr kniete, über das dunkle Haar. Jennifer war taubstumm; Samantha hatte ihr die Bedeutung dieses Rituals in der kleinen Kapelle nie erklären können. Aber das Kind kniete stets ruhig und geduldig neben ihr, denn es sah etwas, das sonst niemand sah: Das Gesicht des Standbilds glich aufs Haar dem der Frau, die sie bei sich aufgenommen hatte.
    »Wir müssen jetzt gehen«, sagte Samantha leise. Sie sprach immer mit ihr, obwohl sie nicht hören konnte.
    Samantha ging nicht gern von der Mission fort, aber sie wußte, daß in ihrer Praxis Patienten auf sie warteten. Sie schloß ihre Praxis selten, tat kaum je etwas für sich, doch diese

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