Sturmjahre
den Kopf. »Ich sehe jetzt, daß ich bei ihm nie eine Chance hatte, als Sie kamen. Sie gaben ihm etwas, das ich ihm nicht geben konnte. Sie hatten all dies hier mit ihm gemeinsam …« Sie machte eine Geste, die das ganze Zimmer umschloß und die Medizin meinte. »Dr. Hargrave, ich muß Sie um Verzeihung bitten. Das ist der zweite Grund meines Besuchs. Sie haben meiner Schwester das Leben gerettet. Ich weiß jetzt alles. Sie hat mir die Wahrheit über – über ihre Indiskretionen gesagt. Ich danke Ihnen, Dr. Hargrave, daß Sie ihr geholfen haben.«
Wieder griff Janelle in ihren Pompadour und entnahm ihm ein kleines Päckchen, das sie Samantha in die Hand drückte.
»Das ist von Letitia. Sie bat mich, es Ihnen zu geben. Es bedeutete ihr sehr viel. Sie möchte Ihnen mit diesem Geschenk danken.«
Samantha faltete das Seidenpapier auseinander und sah einen blaugrünen Stein von der Größe eines Silberdollars.
»Letitia hat ihn vor Jahren einigen Zigeunern auf einem Rummelplatz abgekauft. Sie erzählten ihr, er wäre uralt und brächte dem, der ihn trägt, Glück. Es scheint, daß der Stein die Farbe wechseln kann. Es heißt, wenn seine Farbe verblaßt, dann hat der Träger das Glück, das er bringt, verbraucht, und der Stein muß weitergegeben werden. Letitia hatte ihn in der Nacht, als Sie sie operierten, in ihrer Tasche.«
Der glänzende Türkis hatte die Form eines Rotkehlcheneis und war in der Mitte von einer eigentümlich geformten Maserung durchzogen.
»Letitia sagt, der Stein hätte jetzt seine dunkle Farbe verloren«, fuhr Janelle fort. »Ich kann es nicht erkennen, aber meine Schwester ist sehr abergläubisch …«
Samantha legte die Finger um den kühlen Stein. »Bitte danken Sie Letitia für mich. Ich werde ihn immer gut hüten.«
Janelle warf einen Blick auf die Koffer. »Wohin reisen Sie?«
»Einfach fort. Nach Kalifornien. In ein neues Leben. Hier hält mich nichts.«
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
{275} Samantha überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Ach ja, das wäre nett.« Sie nahm einen Brief, der auf ihrem Nachttisch lag. »Würden Sie den bitte Mrs. Rawlins geben? Ich wollte sie aufsuchen, aber sie empfängt niemanden.«
»Mrs. Rawlins ist nach Boston zurückgegangen. Marks Tod war ein schrecklicher Schlag für sie. Sie ist krank und liegt zu Bett. Ich werde ihr den Brief gern geben, Dr. Hargrave, und wenn ich sonst noch etwas tun kann …«
»Nein, nein. Ich danke Ihnen, daß Sie hergekommen sind.«
Nachdem Janelle gegangen war, zog Samantha ihre Handschuhe an und sah sich ein letztes Mal in ihrem Zimmer um. Sie wußte nicht, was sie in Kalifornien erwartete, wohin ihr Weg sie führen würde; sie wußte nur, daß sie von hier fort mußte, einen Platz finden mußte, wo ihre Wunden heilen würden. Und einen Platz, wo sie ihr Kind, ihres und Marks, zur Welt bringen konnte.
Wir werden zusammen ein neues Leben anfangen, und Mark wird immer bei mir sein …
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Vierter Teil
San Francisco, 1886
{278} 1
Samantha warf einen Penny in den Kasten, nahm eine Kerze, entzündete sie an einer, die schon brannte, und drückte sie fest auf einen freien Spieß. Dann kniete sie unter dem Standbild der Madonna nieder und faltete die Hände. Obwohl sie nicht katholisch war, kam sie seit langem regelmäßig in die Mission, wenn sie Sehnsucht nach Ruhe und Frieden hatte. Hier hatte sie Trost gefunden, als zwei Jahre zuvor ihre kleine Tochter, Clair, an Diphtherie gestorben war. Dieser Tag war Clairs Geburtstag; sie wäre drei Jahre alt geworden.
Tränen traten Samantha in die Augen, und die ruhigen Flammen der vielen Kerzen zu Füßen des Standbilds verschwammen unter ihrem Blick. Sie war tieftraurig, sie würde niemals aufhören, um Mark und um ihr Kind zu trauern, doch in der tröstlichen Stille der kleinen Kapelle wurde der Schmerz erträglicher.
Unter ihrem Kleid lag glatt und warm der Stein auf ihrer Haut, den Letitia ihr zum Dank geschenkt hatte. Samantha hatte ihn bei späterem genauerem Hinsehen höchst eigentümlich gefunden. Auf der Rückseite trug er eine Inschrift in fremden Buchstaben und ein Datum, beides nicht mehr deutlich erkennbar. Die rostfarbene Maserung auf der Vorderseite hatte auf den ersten Blick die Gestalt einer Frau mit ausgestreckten Armen; betrachtete man sie aus einem anderen Winkel, so sah man zwei Schlangen, die sich an einem Baumstamm emporwanden. Sobald Samantha das nötige Geld beisammen gehabt hatte, war sie zu einem Goldschmied
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