Sturmjahre
öffnen.
Nun fehlten nur noch die Patienten.
Der letzte Handwerker war gegangen, die Zimmer und Gänge rochen nach frischer Farbe und Seife. In jedem Stockwerk gab es einen Kohleofen – Samantha hatte Dampfheizung installieren lassen wollen, aber das hätte noch einmal fünftausend Dollar mehr gekostet; neben jedem Krankenbett war ein Klingelzug, mit dem die Schwester gerufen werden konnte, und im ganzen Gebäude war ein System von Lautsprechern verlegt, ähnlich wie auf einem Schiff.
{308} Die Personalunterkünfte waren fertig eingerichtet; in jedem Zimmer gab es zwei Betten, einen Waschtisch, eine Kommode und einen Schreibtisch. Bald würden fünfzehn Schwestern und Schwesternschülerinnen und dazu die Ärztinnen Willella Canby, Mary Bradshaw und Hortense Lovejoy in diese Zimmer einziehen.
Die Küchenräume waren geschrubbt, geputzt und voll ausgestattet. Im Gemeinschaftsraum, der für die Patientinnen gedacht war, die aufstehen konnten, standen ein Flügel, bequeme Sessel und mehrere Bücherschränke, alles Spenden. Den Flur entlang waren die Untersuchungszimmer, die Unfallstation und Samanthas Büro.
Die Krankensäle standen noch leer. Samantha, die den ganzen Komplex noch ein letztesmal inspiziert hatte und nun nach Hause gehen wollte, um sich für Hilarys großes Einweihungsfest zurechtzumachen, blieb im Foyer stehen. Es war früher Abend, die Geräusche der Straße drangen durch die offene Tür. Langsam drehte sich Samantha um, ließ den Blick über die blank polierten Bänke schweifen, um den Holzkasten für die Spenden und die Blumenarrangements, die das Foyer schmückten. Sie war ungläubig, aufgeregt und ein wenig furchtsam zugleich. Bis hierher hatten sie es geschafft, hatten das Ziel erreicht, das zunächst wie ein unerfüllbarer Traum erschienen war, aber das war noch keine Garantie für den weiteren Erfolg. Hatte sie das Richtige getan? Würden die Frauen vergessen können, daß dies einst ein Bordell und eine Spielhölle gewesen war? Würden sie zu ihr kommen?
Sie strich mit der Hand über die glatte Fläche des Empfangspults und dachte an Mark. Ach, wenn er in diesem Augenblick bei ihr sein könnte!
Samantha legte die Hand auf den Türknauf und schloß einen Moment die Augen. Morgen, morgen wird das Krankenhaus eröffnet werden …
5
Wenn man die Erdatmosphäre wie einen Vorhang teilen könnte, würde man die Sterne sehen, wie sie wirklich sind: feste, kalte Lichtkörper. Sie würden wahrscheinlich viel von ihrer geheimnisvollen Anziehungkraft und ihrer Romantik verlieren. So sah die kleine Jennifer das Leben, mit reinem Sinn, unbeeinflußt von Vorurteilen, Ängsten, Lügen und Illusionen. Jennifer, die nie ein unwahres Wort gehört hatte, nie schmeichlerische Lügen, Worte der Täuschung und des Betrugs, wußte nicht, daß die Menschen die Sprache gebrauchten, um sich dahinter zu verbergen.
{309} Darum ahnte Jenny nicht, als Dahlia Mason noch einmal ins Kinderzimmer heraufkam, um ihren kleinen Robert zu herzen, daß der Mund der prächtig geputzten Frau, die sie aus ihrem Eckchen beobachtete, etwas anderes sagte als ihre Augen. Das Kindermädchen hörte: »Ach, was für ein wunderschönes Zimmer! Mein kleiner Robert sollte es so gut haben wie Merry Gant!« Doch die leicht zusammengekniffenen Augen sagten: Niemals würde ich meinen Robert so entsetzlich verwöhnen!
Jennifer Hargrave, niemals durch die Sprache verführt, sah die Menschen wie sie wirklich waren, und sehr häufig gefiel ihr das, was sie sah, nicht. Dahlia Mason war einer der Menschen, die ihr nicht gefielen, aber Jenny wußte, daß sie unbedeutend war, keine Bedrohung. Doch es gab andere, Gefährliche, und vor denen fürchtete sie sich. An diesem Abend hatte sie unten einen Mann gesehen, der sie ängstigte, und sie konnte ihn sich nicht aus dem Kopf schlagen.
Als Megan O’Hanrahan vor zehn Jahren dieses Kind geboren hatte, hatte sie das teilnahmslose kleine Wesen nur einmal angesehen und augenblicklich abgelehnt. Sie gab dem Kind zwar zu essen, wie es ihre Pflicht war, aber sie faßte es nur an, um es wegzustoßen. Da die Kleine von allen für schwachsinnig gehalten wurde, versuchte nie jemand, mit ihr in Beziehung zu treten. Schmutzig und vernachlässigt wuchs sie auf, Gegenstand allgemeiner Verachtung. Jenny lernte nie, was Liebe ist: man gab ihr nichts und erwartete auch nichts von ihr. Aber so wie sie nichts von Liebe wußte, wußte sie auch nichts von Schmerz. Der Tod ihrer Mutter, der nun beinahe zwei Jahre
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