Sturmjahre
zurücklag, hatte sie unberührt gelassen.
Dann war die Frau gekommen und hatte sie mitgenommen. Jenny hatte ihre neue Umgebung mit scharfem Auge und ohne Furcht wahrgenommen, und am aufmerksamsten hatte sie die Frau beobachtet, die sie sehr schön fand. Doch Jenny besaß Instinkte, und zwei von ihnen waren stark ausgeprägt: treue Anhänglichkeit und ein Gespür für Gefahr. Dieser schönen Frau war sie so treu ergeben wie ein Hündchen seinem Herrn, der es vor dem Tod gerettet hat. Ihr Gespür für Gefahr war in dem Elendsviertel geschärft worden. Und diese beiden Instinkte, die Jennys Verhalten leiteten, waren am Abend des großen Einweihungsfestes hellwach.
Das Kindermädchen hatte die kleinen Mädchen ein Stück die Treppe hinuntergeführt, so daß sie einen verstohlenen Blick auf das festliche Treiben hatten werfen können, und Jenny hatte den weißhaarigen Mann gesehen, dessen Blick ihrer Beschützerin überallhin folgte. Sie mißtraute ihm instinktiv.
{310} Samantha stand in der Tür zum Festsaal, um Mrs. Beauchamp zu begrüßen, eine ihrer Patientinnen, eine Witwe, die, obwohl ihr Mann seit zwanzig Jahren tot war, immer noch ausschließlich schwarz trug.
»Meine liebe Dr. Hargrave«, sagte die Frau und drückte ihr kräftig die Hand, »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, daß ich heute abend hier sein kann.«
Samantha lächelte. Dreihundert Hände hatte sie bisher geschüttelt, aber der Strom der Gäste riß immer noch nicht ab. Und obwohl sie von der harten Arbeit der letzten Monate eigentlich hätte müde und erschöpft sein müssen, fühlte sie sich frisch und lebendig. Sie genoß diesen Abend, den Glanz, die Lichter, die vielen Menschen, die alle gekommen waren, um mit ihr und Hilary die Eröffnung des Krankenhauses zu feiern.
Sie schaute an Mrs. Beauchamp vorbei zu Hilary, die sich auf der anderen Seite des Saals mit einigen Gästen unterhielt, und mußte lächeln über die quirlige Energie der Freundin. Im vierten Monat schwanger und zum schockierten Erstaunen der Gesellschaft gar nicht bemüht, es zu verbergen, spielte sie die Rolle der Gastgeberin mit einer Grandezza, als handle es sich um eine intime kleine Teegesellschaft. Von blendender Schönheit in weißem Satin mit Hermelinbesatz, überwachte sie ohne das geringste Anzeichen von Nervosität oder Gereiztheit die Bediensteten, die die Gäste mit Getränken und Speisen versorgten, und kümmerte sich gleichzeitig mit gewinnender Aufmerksamkeit um jeden einzelnen Gast. Als sie jetzt durch den Saal zu Samantha hinüberblickte, zwinkerte sie ihr lächelnd zu. Dieser Abend gehörte ihnen beiden.
Mrs. Beauchamp machte eben eine Bemerkung über die Schwesterntrachten – ob eine gedämpftere Farbe nicht passender wäre als das unpraktische Hellblau? –, und Samantha widersprach freundlich. »In einem Krankenhaus geht es traurig genug zu, Mrs. Beauchamp. Helle Farben wirken aufmunternd auf die Menschen, und wenn die Seele hell ist, heilt der Körper leichter. Sind Sie nicht auch der Meinung?«
»Aber ja, da haben Sie recht!« Mrs. Beauchamps wieselflinker Blick schweifte durch den Saal. Samantha sah ihr an, daß sie eine kräftige Dosis von Dr. Mortons Gesundheitselixir gekippt hatte, ehe sie gekommen war.
Mrs. Beauchamp war zur Behandlung ihrer Krampfadern zu Samantha gekommen. Obwohl sie sich sonst in jeder Hinsicht streng an Samanthas Ratschläge hielt, hatte sie sich von der regelmäßigen Einnahme von Dr. Mortons Elixier nicht abbringen lassen. Es helfe ihr über ›schwarze‹ Tage hinweg, hatte sie erklärt und einfach bestritten, daß es so schädlich sein könne, wie Samantha es darstellte. Man bekam es schließlich in den be {311} sten Apotheken; da würde man doch bestimmt nichts verkaufen, was Schaden anrichten könne. Samantha hatte ihr klarzumachen versucht, daß das Elixier einen hohen Opiumgehalt hatte und Mrs. Beauchamp auf dem besten Weg sei, süchtig zu werden, aber das hatte die Frau außerordentlich beleidigend gefunden. Wenn eine Waschfrau jeden Tag einen Eßlöffel Dr. Mortons nahm, war es eine Sucht; wenn eine Dame der Gesellschaft das gleiche tat, handelte es sich um eine notwendige gesundheitsfördernde Maßnahme.
Die nächsten Gäste, die eintrafen, waren Mr. und Mrs. Charles Havens, die Samantha zur Eröffnung des Krankenhauses mit Herzlichkeit Glück und Erfolg wünschten. Sie hatten den Operationssaal finanziert. Auch Rosemary Havens gehörte zu Samanthas Patientinnen. Sie hatte vier
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