Sturmjahre
stellte Samantha die Kaffeetasse weg und nahm die Freundin in die Arme. Sie hielt sie lange fest an sich gedrückt und wiegte sie sachte wie ein Kind.
Sie fuhr zusammen, als es klopfte, und stand aus dem Sessel auf, in dem sie die letzten zwei Stunden gesessen hatte, um zu öffnen. Darius, in weißer Hose und marineblauem Blazer, stand vor ihr.
{354} »Samantha! Mrs. Mainwaring sagte mir –«
»Pst!« Sie legte einen Finger auf die Lippen. »Gehen wir hinunter.«
»Ist ihr auch nichts passiert? Mrs. Mainwaring sagte mir, daß sie die Treppe hinuntergestürzt ist.«
Samantha legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Wir dürfen Sie jetzt nicht stören, Darius. Komm, reden wir unten.«
Im Salon blieb Darius vor dem Kamin stehen. Die zuckenden Flammen verzerrten seinen Schatten ins Groteske. Samantha setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel.
»Hilary hatte ein Medikament genommen, das ihr die Orientierung raubte. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte.«
»Was für ein Medikament?«
»Es soll bei Depressionen helfen. Wußtest du, daß Hilary Depressionen hatte?«
»Nein. Davon habe ich nichts bemerkt …« Darius ging zu einem Sessel. »Ich bin in letzter Zeit nicht viel zu Hause gewesen, aber wenn sie deprimiert gewesen wäre, hätte sie es mir doch gesagt, meinst du nicht?«
Samantha seufzte. »Ich bin ihre beste Freundin, Darius, aber ich hatte auch keine Ahnung, daß es ihr nicht gut ging, Darius. Das Medikament ist ausdrücklich für werdende Mütter. Ist Hilary über diese Schwangerschaft unglücklich?«
Er starrte sie an. »Ich wußte gar nicht, daß sie ein Kind erwartet.«
Samantha schwieg. Ihr fiel plötzlich ein, daß man ihr vor ein paar Tagen im Krankenhaus ausgerichtet hatte, Hilary wäre dagewesen, während sie operiert hatte. Sie hatte vorgehabt, Hilary am selben Abend anzurufen, aber dann war der Prozeß gegen Willella Canby dazwischen gekommen. Andere Kleinigkeiten fielen Samantha jetzt ein: Wie unglücklich Hilary während ihrer letzten Schwangerschaft gewesen war; der heimliche Kauf des Pessars; Hilarys deutlich ausgesprochene Erklärung, daß sie hoffe, das alles nun endgültig hinter sich zu haben. Mit einem Schlag war Samantha alles klar.
Sie fühlte sich schuldig. Hilary brauchte mich, und ich war nicht da.
»Darius«, sagte sie leise, »wir haben sie im Stich gelassen. Du hattest mit deinen Geschäften zu tun und ich mit dem Krankenhaus.«
»Aber Hilary hat doch selbst genug zu tun. Sie hat ihr Damenkomitee, die sechs Kinder, ein großes Haus, um das sie sich kümmern muß.«
»Vielleicht ist ihr das nicht genug, Darius. Oder vielleicht ist es nicht das, was sie sich wünscht. Hilary ist schon lange unglücklich, und wir haben es nie bemerkt.«
»Das verstehe ich nicht. Wieso soll sie unglücklich sein? Und gerade {355} jetzt, da sie wieder ein Kind erwartet. Sie müßte doch überglücklich sein.«
»Vielleicht will sie kein Kind mehr, Darius.«
»Das ist ja lächerlich.«
»Wußtest du, daß sie Verhütungsmittel angewendet hat?«
Er sah sie nur an, wie vom Donner gerührt.
Ein schrecklicher Gedanke kam Samantha. War der Sturz wirklich ein Unfall gewesen?
»Aber warum denn?« fragte Darius. »Warum sollte sie kein Kind mehr wollen?«
»Darius.« Samantha beugte sich vor. »Hilary ist eine gute Ehefrau und eine gute Mutter. Aber sie wünscht sich mehr als das. Seit ich sie damals kennengelernt habe, war sie eigentlich bis auf die letzten zwei Jahre ununterbrochen schwanger. Immer eingeschränkt, wie eine Gefangene. Sie will das nicht mehr. Sie möchte frei sein.«
»Frei? Frei wovon?«
»Von ständiger Schwangerschaft.«
»Aber das ist doch die Bestimmung einer Frau.«
»Sie hat sechs Kinder, Darius. Diese Bestimmung hat sie erfüllt.«
»Das ist nicht in Ordnung.« Er schüttelte den Kopf. »Ohne mein Wissen, Verhütungsmittel anzuwenden. Ich habe auch gewisse Rechte.«
»Aber Hilary auch, Darius. Sie hat das Recht auf Freiheit. Und sie hat dieses Recht wahrgenommen, indem sie zur Verhütung griff.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Solange du Hilary immer wieder schwängern kannst, Darius, ist sie dir unterworfen. Aber indem sie dir diese Macht nimmt, macht sie sich von dir frei.«
Er sah sie entsetzt an. »Dann habe ich sie verloren?«
»Aber nein«, entgegnete Samantha. »Du hast sie nicht verloren. Du hast immer noch eure Ehe, Darius, und dir bleibt ihre Liebe.«
»Nein, nicht wenn sie meine Kinder nicht haben will.«
»Hier geht es
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