Sturmjahre
vergaßen alles um sich herum. Diese eine Nacht gehörte nur ihnen. Später, wenn kühl und ernüchternd der Tag graute, wenn die ersten Geräusche des erwachenden Krankenhauses zu ihnen hinunterdrangen, würden sie darüber sprechen und der Realität ins Auge sehen. Sie würden sich damit auseinandersetzen, daß sie nicht frei waren, ihrer Liebe und Leidenschaft nicht nochmals nachgeben konnten, daß sie an andere zu denken hatten, an Lilian im besonderen, daß sie die Gegenwart akzeptieren und leben mußten. Samantha erzählte Mark von ihrem Kind, und {388} sie versuchten, so schwer das war, sich damit auszusöhnen, daß die Vergangenheit nicht wiederholbar war.
Diese eine Nacht jedoch gehörte ihnen.
9
Ende 1896 verbreiteten sich erste Meldungen von Goldfunden in Alaska, und San Francisco wurde bald zum Sammelbecken der vom Goldrausch befallenen Glücksritter und Abenteurer, die sich von hier aus nach Alaska einschifften. Der Goldsucher in Flanellhemd und wollenem Parka gehörte bald zum Stadtbild, und die Zeitungen berichteten ausführlich über die widrigen Zustände und die Gefahren in den Lagern am Yukon. Das Goldfieber packte alle, einschließlich Darius Gant, der zwei Bergleute finanzierte und sich dafür die Hälfte ihres Gewinns überschreiben ließ, und eine Zeitlang ging es in San Francisco so abenteuerlich und rauhbeinig zu wie in alten Tagen.
Die Folge davon war, daß Samanthas Artikel in
Woman’s Companion
mit einer Menge anderer aufregender Nachrichten und Neuigkeiten zu konkurrieren hatten.
Das Dezemberheft brachte eine Reportage mit dem Titel ›Das reine Gift!‹, und im Januar erschien unter der Überschrift ›Wie leicht lassen Sie sich hereinlegen?‹ ein Test, an dem jede Leserin prüfen konnte, wie gut sie über die in Drugstores verkäuflichen Arzneimittel informiert war. Aber keiner der beiden Artikel rief ein Echo hervor, das dem nach dem ersten Bericht vergleichbar gewesen wäre. Die aufregenden Reportagen und Legenden vom Yukon hatten die Leserschaft abtrünnig gemacht, und man konnte sie, wie Horace Chandler behauptete, nur zurückgewinnen, wenn man ihr etwas wahrhaft Sensationelles auftischte.
Darum arbeitete Samantha jetzt, wenn sie nicht im Krankenhaus zu tun hatte, an einer ›wahren Geschichte‹ unter dem Titel ›Ich war abhängig‹. Die Tatsachen waren einer Krankengeschichte aus den Akten des Krankenhauses entnommen, und der Bericht zeichnete ein erschreckendes Bild von der Realität einer typischen Arzneimittelabhängigen.
Die Tage vergingen in einer endlosen Folge von Untersuchungen und Behandlungen, von Siegen und Niederlagen. Der naßkalte Winter wich langsam den milden Winden des Frühjahrs, und das Goldfieber in der Stadt nahm immer noch zu.
Samantha und Mark sahen sich während dieser regnerischen Wintermonate sehr viel; die Nacht im Labor jedoch blieb ein Ereignis, das sich nicht {389} wiederholte. Meistens saßen sie in Samanthas Büro und tranken eine Tasse Tee miteinander und lauschten, wenn in ihren Gesprächen eine Pause eintrat, dem Prasseln des Regens an den Fenstern. Sie brauchten die körperliche Liebe nicht in diesen Monaten; Blicke, eine flüchtige Berührung, das Wissen wie sie zueinander standen, genügte ihnen.
Sie arbeiteten an ihrer Kampagne – Mark unten im Labor, wo er Gesundheitselixiere und Stärkungsmittel analysierte; Samantha in ihrem Büro, wo sie die gefundenen Daten ordnete und auswertete. Über das, was sie im Innersten bewegte, sprachen sie nie wieder; sie wußten es ja: Sie liebten und begehrten einander.
»Bitte versuchen Sie, sich zu entspannen, Mrs. Sargent. Ja, so ist es gut.«
Samantha richtete den Blick auf die Wand gegenüber und stellte sich die innere Geographie des Bauchraums vor, während sie mit ihren Fingern tastete. »Gut, danke. Sie können sich wieder anziehen.«
Sie ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen.
Auf dem Tischchen neben dem Becken lagen Mrs. Sargents Handtasche und Handschuhe, daneben die
Saturday Evening Post,
in der sie gelesen hatte, während sie auf Samantha gewartet hatte. Sie war bei einem Bericht über Präsident McKinley aufgeschlagen, der vor kurzem in sein Amt eingeführt worden war. Samanthas Blick auf den Anzeigenkasten darunter. ›Operationen lassen sich vermeiden‹, stand da in fetten Lettern. ›Vernachlässigen Sie sich nicht und lassen Sie die Dinge nicht schleifen, bis Ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt, als ins Krankenhaus zu gehen. Bauen Sie Ihre
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