Sturmjahre
hätte zwei kräftige Dienstmädchen den ganzen Tag auf Trab gehalten. Morgens mußte Feuer gemacht und der Kessel aufgesetzt werden; das Kamingitter mußte geputzt und poliert werden, ebenso der Rost; Leintücher und Schonbezüge mußten von den Möbeln genommen, ausgeschüttelt und wieder aufgelegt werden; die Böden mußten gefegt, die Teppiche geklopft, Simse und Regale abgestaubt werden. Dazu mußte sie täglich spülen und Hawksbills Mahlzeiten zubereiten. Zum Einkaufen gab er ihr neun Pence; davon {47} mußte sie Milch, Brot und Fleischpasteten, die schon angegangen waren, bezahlen. Doch als der alte Hawksbill ihr am Ende der Woche drei Shilling in die Hand drückte, war alle Müdigkeit wie weggeblasen. Sie war selig. Ein Geschenk für ihren Vater.
»Na, wie ist es denn so?« erkundigte sich Freddy, der sich auf ihrem Heimweg zu ihr gesellte.
»Ach, geht schon. Nichts Besonderes.«
»Macht er keine schlimmen Sachen?«
Samantha dachte an die abgeschlossene Tür. »Ich hab’ nichts davon gemerkt.«
Freddy kickte mit dem Fuß einen Stein vor sich her. Er war fast fünfzehn, hochaufgeschossen und schlaksig, ein hübscher Halbwüchsiger.
»Harry Passwater hat mir erzählt, der Alte hätte mal mit einem kleinen Mädchen was ganz Schlimmes angestellt. Er wär’ beinah’ dafür aufgehängt worden, aber dann hat er die Zeugen verzaubert, und keiner konnte ihm was nachweisen.«
»Du kannst Harry Passwater ausrichten, er soll nicht solche Geschichten erzählen.«
»He, jetzt setz dich bloß nicht aufs hohe Roß, Samantha Hargrave! Du bist vielleicht in Stellung, aber darauf brauchst du dir noch lange nichts einzubilden.«
Vor dem Haus der Hargraves angelangt, faßte Freddy Samantha impulsiv bei den Schultern. Mit einem Ernst, den sie nie zuvor an ihm gesehen hatte, sagte er: »Wenn der alte Kerl dir auch nur ein Härchen krümmt, Sam, schlag ich ihm seinen grauslichen Schädel ein. Das schwör’ ich dir.«
Sie sah ihm nach, bis er verschwunden war, dann lief sie ins Haus. Ihr Vater nahm die drei Shilling ohne ein Wort.
Der Sommer ging zur Neige, ein regnerischer Herbst folgte und wurde von einem trüben, grauen Winter abgelöst. Für Samantha, die nun nicht mehr nach Herzenslust auf der Straße herumspringen konnte, reihten sich die Tage in ereignisloser Eintönigkeit aneinander, die nur ab und zu von einem Brief ihres Bruders James aus Oxford unterbrochen wurde. Tagsüber erledigte sie ihre Arbeit in Isaiah Hawksbills stillem, finsteren Haus, abends saß sie in der freudlosen Wohnstube unter dem strengen Blick ihres Vaters beim Bibelstudium. Mit der Zeit regte sich eine immer stärker werdende Neugier in ihr.
Was trieb Mr. Hawksbill Tag für Tag hinter der verschlossenen Tür?
{48} 6
Isaiah Hawksbill hatte zwei streng gehütete Geheimnisse: Dem einen wäre man auf den Grund gekommen, wenn man die Dielenbretter im kleinen Vorsaal seines Hauses hochgehoben hätte; dem anderen, wenn man seiner Herkunft nachgespürt hätte. Er war Jude.
Isaiah Rubinowitsch, in Weißrußland geboren, war der Sohn eines armen Hausierers und seiner schwindsüchtigen Frau. Er hatte eines Nachts aus dem Getto fliehen müssen, als die bewaffneten Horden des Zaren ihn abholen wollten. Zar Nikolaus hatte verfügt, daß alle Juden männlichen Geschlechts zwischen zwölf und achtzehn Jahren zu fünfundzwanzig Jahren Wehrdienst eingezogen werden sollten. Isaiah war mit einem Laib Brot und dem Versprechen geflohen, daß er eines Tages zurückkehren würde. Seitdem waren fünfundvierzig Jahre vergangen.
Das Schicksal hatte ihn erst nach Polen, dann nach Deutschland verschlagen, wo die Juden größere Freiheit genossen und das akademische Leben blühte. In Gießen wurde er von entfernten Verwandten aufgenommen und begann an der Universität Gießen bei Justus von Liebig das Studium der Pharmakologie.
So sehr der junge, einsame Isaiah sich danach sehnte, eines Tages in seine Heimat zurückzukehren, wußte er doch, daß dies nur ein schöner Traum war; in den Jahren seit seiner Flucht hatten sich die Lebensbedingungen der Juden in Rußland weiter verschlechtert; sie wurden verfolgt und waren größter materieller Not ausgesetzt. In Westeuropa hingegen bot sich Isaiah ein Leben in Freiheit und die Aussicht auf Wohlstand und Ansehen.
Nach Beendigung seines Studiums ließ Isaiah sich als Apotheker nieder und genoß die Wertschätzung vieler ausgezeichneter Ärzte. Infolge seines jähzornigen Temperaments und gewisser radikaler
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