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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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dich an sie?«
    »Nein.«
    »Betest du für sie?«
    »Ich bete jeden Abend für die gefallenen Frauen vom Haymarket.«
    »Wozu denn das?«
    »Vater will es so.«
    »Und er hat dir nie gesagt, daß du für deine Mama beten sollst? Hast du dir nie Gedanken über sie gemacht?«
    »Nein, ich hab’ nie an sie gedacht. Das ist sicher nicht richtig, weil ja jeder eine Mutter hat, sogar Freddy. Ich glaub’, ich hab’ immer gedacht, ich hätte nie eine Mutter gehabt. Aber das kann ja nicht sein, oder?«
    »Nein, das kann nicht sein …«
    Dies war ein neues Geheimnis, dem Samantha sich nun zuwenden konnte, da das Rätsel um das verbotene Zimmer des alten Mr. Hawksbill nun gelöst war. Er sei ein Kräuterkundiger, erklärte er ihr, und arbeite täglich an einem umfassenden Buch über Pflanzen- und Kräutermedizin. Da das Schreiben eines solchen Werkes viel gründliche Forschung und Disziplin erfordere, müsse er alle seine Energien darauf konzentrieren. Nun wollte Samantha wissen, was mit ihrer Mutter geschehen war.
    {53} Die Antwort auf ihre Frage fand sie eines Abends in der Bibel, auf der Seite mit der Überschrift ›Familienregister‹. Am nächsten Morgen bat sie Isaiah Hawksbill um Erläuterung.
    »Was heißt ›verschieden‹?«
    Er hatte gerade aus der Küche hinausgehen wollen. »Warum fragst du?«
    »Weil meine Mutter das ist. Es steht neben ihrem Namen.«
    »Das heißt gestorben.«
    »Meine Mutter ist tot?«
    »Ja, das heißt es.« Er wandte sich ab.
    »Sie ist an meinem Geburtstag gestorben. Wie ist sie gestorben?«
    »Warum fragst du das nicht deinen Vater?«
    »Oh, den darf ich nicht stören.«
    »Aber mich darfst du stören!« rief er ärgerlich.
    Samantha fuhr zurück. »Entschuldigen Sie, Mr. Hawksbill –«
    »Ich bin mit meiner Arbeit sowieso schon spät dran. Ich bin kein junger Mann mehr. Ich muß mich dranhalten, wenn das Buch noch veröffentlicht werden soll, ehe
ich
verschieden bin.«
    Als er auf dem Absatz kehrt machte, rief Samantha hastig: »Warum stellen Sie dann nicht jemanden an, der Ihnen hilft?«
    Die grünen Augen blitzten zornig. »Was soll das heißen, du impertinentes Ding? Erst schnüffelst du in meinen Sachen herum und jetzt willst du mir auch noch sagen, wie ich meine Arbeit tun soll!«
    »Aber es ist doch soviel Arbeit, Mr. Hawksbill. Das haben Sie selbst gesagt. Und es wäre so schade, wenn Sie nicht fertigwerden würden, ehe Sie sterben. Ein Junge, der Kraft hat und Ihre Bücher rumschleppen könnte und Besorgungen –«
    »Himmel!« schimpfte er, doch dann hielt er nachdenklich inne. »So dumm ist der Gedanke gar nicht.«
    Samantha, die an Freddy dachte, sagte eilig: »Wenn Sie einen Jungen anstellen, der Ihnen Gläser und Flaschen kaufen kann, der Ihre Bücher sortiert, damit Sie leichter rankommen, und der Ihnen allerhand unwichtige Sachen abnehmen kann, damit Sie mehr zum Schreiben kommen –«
    »Brauch’ ich nicht«, entgegnete er kurz. »Ich hab schließlich dich.«
    Sie riß die Augen auf. »Mich, Sir?«

{54} 7
    Noch am selben Tag machte er sie zu seiner Gehilfin. Sie mußte Kisten auspacken, Behälter mit getrockneten Kräutern und Blütenblättern und Samen sortieren, Federkiele spitzen, Bücher abstauben. Als der Alte entdeckte, daß sie lesen konnte, ließ er sie die Stapel von Büchern über Wesen und Art Hunderter von Pflanzen alphabetisch ordnen; und als er entdeckte, daß sie auch schreiben konnte, mußte sie für ihn Etiketten mit den lateinischen Namen der Pflanzen beschriften.
    Samanthas erste Arbeitswoche als Gehilfin des alten Hawksbill war noch nicht vorüber, da begann er immer häufiger, ihr Erklärung und Unterweisung zu geben. Sie lernte, daß Lakritze auf lateinisch
Glycyrrhiza glabra
hieß, daß die Kerne der Wassermelone gegen Bandwurm wirkten, daß
centranthus ruber
ein ausgezeichnetes Beruhigungsmittel war. Ihr Lerneifer wuchs mit jedem neuen Wort, das sie erfuhr; je mehr er ihr beibrachte, desto größer wurde ihr Wissensdurst. Isaiah Hawksbill, der von sich selbst vermutet hätte, daß ihre begierigen Fragen ihn irritieren würden, stellte mit Erstaunen fest, daß er die Geduld in Person war. Ja, mit dem nicht nachlassenden Wunsch des Kindes zu lernen, erwachte in dem versteinerten Alten ein intensiver Wunsch, sein eigenes Wissen weiterzugeben.
    Die Beziehung zwischen dem alten Mann und dem kleinen Mädchen bekam ein völlig neues Gesicht. Immer weniger Zeit brachte Samantha in der Küche zu, vielmehr saß sie im Arbeitszimmer an Hawksbills

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