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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Glasbehälter aus. Vorsichtig schloß sie die Finger darum und zog ihn an den Rand des Bordes. Als sie ihn herunterheben wollte, hörte sie an der Tür ein Geräusch. Sie drehte sich um. Er stand auf der Schwelle. Samantha schrie erschrocken auf und ließ den Glasbehälter fallen, der auf dem Boden in tausend Scherben zersprang.
    Wie ein riesiger schwarzer Vogel in seinem flatternden Cape stürzte er sich auf sie. Sie schrie laut, als er sie mit knochigen Händen packte und schüttelte.
    »Bitte, Sir, ich wollte ihn doch nur freilassen. Ich hab’ sonst nichts angefaßt. Bestimmt nicht. Bitte schlagen Sie mich nicht, Mr. Hawksbill.«
    Immer noch schüttelte er sie. »Ich habe dich gewarnt, du ungezogenes Ding!«
    »Er wollte doch raus!« schrie sie. »Ich wollte ihn nur rauslassen.«
    »Ich werde dich lehren, meine Verbote zu mißachten!«
    Samantha schaffte es, sich loszureißen und deckte schützend einen Arm {51} über ihr Gesicht. »Bitte, bitte, Mr. Hawksbill, schlagen Sie mich nicht.«
    Er sagte nichts. Als Samantha vorsichtig unter dem Schutz ihres Armes zu ihm aufsah, bemerkte sie, daß er verwirrt war.
    »Was redest du da?« fragte er. »Wen wolltest du freilassen?«
    Jetzt erst begann Samantha zu weinen. »Den kleinen Mann da«, antwortete sie schluchzend. »Warum haben Sie ihn in der Flasche eingeschlossen? Er wollte raus, und ich wollte ihm helfen.«
    Zu ihrer Überraschung trat der alte Hawksbill einen Schritt von ihr weg und richtete sich auf. »Hör auf zu weinen!« befahl er.
    Samantha schniefte und schnüffelte.
    »Ich habe gesagt, du sollst aufhören zu weinen. Also, was hat das Gerede zu bedeuten?«
    »Der kleine Mann da!« Sie deutete auf die Scherben auf dem Boden.
    Hawksbill zog eine kleine Schachtel aus seiner Rocktasche, riß ein Schwefelhölzchen an und entzündete die Petroleumlampe. Dann bückte er sich zu der Bescherung auf dem Boden.
    »Meine Alraunwurzel«, sagte er in überraschend ruhigem Ton. »Aber es ist nichts passiert, sie ist nicht beschädigt.« Er sah zu Samantha auf. »Habe ich dir wehgetan?«
    »N-nein, Sir.«
    Er blickte wieder zum Boden hinunter und schob mit seinen knorrigen Fingern vorsichtig die Glasscherben zusammen. »Wird mühsam werden, das aufzufegen. Es hatte genau die richtige Größe. Wer weiß, ob ich nochmal so eines finde …«
    Samantha schaute erstaunt zu ihm hinunter. Sie sah den gekrümmten alten Rücken, die gebogenen Schultern, den rosigen Scheitel inmitten des Kranzes ungebärdiger weißer Haare und sagte mit kleiner Stimme: »Es tut mir leid, Mr. Hawksbill. Wirklich, es tut mir so leid.«
    Er richtete sich schwerfällig auf. »Es macht nichts. Kinder sind nun mal neugierig.« Seine Stimme wurde weich. »Habe ich dir auch wirklich nicht wehgetan?«
    »Überhaupt nicht, Mr. Hawksbill.«
    »Weißt du, sie war genau in deinem Alter …«
     
    »So eine Alraunwurzel ist ein seltsames Ding, weißt du. Weil sie so eine Ähnlichkeit mit einem winzigen Menschen hat, glaubte man jahrhundertelang, sie hätte besondere, geheimnisvolle Kräfte.«
    Sie saßen in dem Durcheinander des Arbeitszimmers und tranken Tee. Samantha hatte die Glasscherben aufgefegt, und Mr. Hawksbill hatte einen neuen Behälter für seine Wurzel gefunden.
    {52} »Man glaubte, die Alraune klammere sich so fest in die Erde, daß sie, wenn man sie herausriß, schreie und wimmere wie ein gequälter kleiner Mensch, und daß jeder, der ihr Schreien hört, auf der Stelle sterben müsse. Das ist der Grund, warum die Alraune immer von extra darauf abgerichteten Hunden herausgezogen wurde.«
    Samanthas Blick wanderte zu dem Glasgefäß, in dem die Wurzel nun wieder eingesperrt war. Jetzt war sie wirklich nichts weiter als eine Wurzel. Aber vorher hätte Samantha schwören können …
    »Sie
nannte die Alraune auch immer ein kleines Männchen.«
    »Wer?«
    »Meine kleine Ruth. Sie war etwa in deinem Alter, als sie –« er schluckte – »an der Cholera starb. Ich habe alles versucht, um sie zu retten, aber mein ganzes Wissen war nutzlos. Ich konnte ihr nicht helfen. Das war vor mehr als zwanzig Jahren. Als ich Ruth und Rachel verloren hatte, gab ich meine Apotheke auf und zog mich hierher zurück.«
    »Und was tun Sie hier?«
    »Du bist ein neugieriges kleines Ding, wie? Aber Ruth war genauso. Immer stellte sie mir Fragen …« Die Stimme des Alten verklang und einen Moment lang sah er Samantha schweigend an. »Wo ist deine Mutter, Kind?« fragte er dann.
    »Weiß ich nicht.«
    »Erinnerst du

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