Sturmjahre
ich dir nicht zugetraut, Sam.«
Samantha starrte stumm auf die rußige Backsteinmauer auf der anderen Seite der Gasse. Erst als Freddy wieder ernst wurde, sagte sie: »Es ist nicht recht, Freddy.«
»Ach, tu doch nicht so, Sam. Da ist doch nichts dabei, wenn man sich mal ins Krankenhaus schleicht –«
»Das mein’ ich ja gar nicht.« Sie sah ihn mit ihren großen grauen Augen eindringlich an. »Ich mein’, was die da drin machen. Ein Doktor soll den Leuten doch helfen. Aber die quälen die Leute ja.«
»Sie meinen’s gut, Sam. Vielleicht können sie’s einfach nicht besser.«
Sie wandte sich ab und zog sich in ihre eigenen Gedanken zurück.
Wochenlang hatte Samantha nach diesem Tag Alpträume. Nacht für Nacht wurde sie von den schrecklichsten Bildern heimgesucht. Aber es waren nicht Furcht oder Ekel, die sie peinigten, sondern das Gefühl, daß Ärzte und Schwestern in den Krankenhäusern sich an ihren Patienten auf furchtbare Weise vergingen.
Als Samantha die innere Beschäftigung mit dem Krankenhaus schon fast zur Besessenheit geworden war, geschah etwas, das sie ablenkte.
Mit dem Übergang des Sommers in einen feuchtkalten Winter, der London mit rußschwarzem Schnee zudeckte, steigerte sich Samuel Hargraves religiöser Eifer zum missionarischen Fanatismus. Samantha mußte nun Abend für Abend die frommen Traktate, die er wieder eifrig schrieb, zu kleinen Heftchen binden, mit denen er dann in die finstersten Gegenden Londons lief, um Gauner und Prostituierte zur Umkehr zu ermahnen. Hand in Hand mit seinem wachsenden Fanatismus ging eine persönliche Veränderung Samuels, die Samantha in ihrer blinden Liebe nicht bemerkte.
Eines Abends tat Samuel etwas Seltsames. Während Samantha im dämmrigen Lampenschein über den Tisch gebeugt saß und an den Trak {44} taten stichelte, spürte sie plötzlich den Blick ihres Vaters auf sich. Sie hob den Kopf und war bestürzt über den Ausdruck wilder Gefühlsbewegtheit in seinen Augen. Lange sah sie ihn verwundert, aber ohne Furcht an, bis er, wie ungewollt, sehr leise »Felicity« sagte.
Samantha, die niemanden dieses Namens kannte, verstand nicht, was er meinte. »Was hast du denn, Vater?« fragte sie.
Der Klang ihrer Stimme schien eine Tür aufgeschlossen zu haben. Zum erstenmal seit zehn Jahren wurde Samuels Gesicht weich und traurig, und Feuchtigkeit verschleierte seine Augen. Mit einem unterdrückten Aufschrei sprang Samantha von ihrem Stuhl auf und lief zu ihm. Sie warf die Arme um seinen Hals und drückte ihr Gesicht an seine Brust. Eine kleine Weile ließ er sich von ihr umschlungen halten, auch wenn er die Umarmung nicht erwiderte, dann zog er ihre Arme von seinem Hals und gebot ihr, an ihren Platz zurückzukehren. Ohne ein weiteres Wort über den Vorfall zu verlieren, setzte er sich wieder an seine Predigt.
Zwei Tage später erklärte er Samantha in dem Ton, den er anzuschlagen pflegte, wenn er sich über eine mißlungene Mahlzeit beschwerte, es wäre an der Zeit, daß sie die Bedeutung christlicher Arbeit und den Wert des Geldes kennenlerne. Sie sei schließlich bereits zehn Jahre alt und stünde an der Schwelle der Entwicklung zur erwachsenen Frau. Er wisse von einem Witwer, der dringend ein Dienstmädchen brauche, das für ihn koche und ihm das Haus sauberhalte. Samantha hätte ihm gern entgegengehalten, daß es unsinnig sei, sie in einen fremden Haushalt zu schicken, wo sie doch ihm, ihrem Vater, die Haushälterin ersetzen könne, doch sie sah seiner strengen Miene an, daß jeder Widerspruch zwecklos gewesen wäre. Er hätte mit dem Herrn vereinbart, erklärte Samuel kurz und bündig, daß Samantha jeden Morgen pünktlich um sieben ihren Dienst antreten, im Haus das Mittag- und das Abendessen einnehmen solle und zur Nacht nach Hause zurückkehren würde.
Schon am folgenden Tag sollte sie ihre Arbeit aufnehmen. Der Herr, der ihrer Dienste so dringend bedurfte, war Isaiah Hawksbill.
5
Das erste, was Samantha vermerkte, war der Gestank, der aus der offenen Tür strömte; das zweite die abschreckende Häßlichkeit des alten Mannes. Stumm starrte sie ihn an und mühte sich, ihren Schrecken zu verbergen, da Freddy sie gewarnt hatte, daß sie für immer in Hawksbills Gewalt sein würde, wenn sie auch nur ein einziges Mal Furcht zeigen sollte.
{45} »Komm rein«, sagte er unwirsch. »Du bist ja wohl die kleine Hargrave, wie?«
Samantha nickte nur und trat ins Haus. Die Tür führte direkt in die Küche, einen düsteren Raum, wo das schmutzige
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