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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Ansichten jedoch fiel er bei der Regierung in Ungnade. Wieder brach er seine Zelte ab und gelangte über Paris in die explosionsartig wachsende Hauptstadt des Britischen Empire. Er nahm einen anderen Namen an und baute sich eine neue Existenz auf. Ein Jahr später lernte er eine schöne englische Jüdin namens Rachel kennen und heiratete sie. Es folgten einige Jahre ungetrübten Glücks, bis im Jahr 1848 die Cholera-Epidemie ihm seine Familie raubte.
    Er schloß seine florierende Apotheke, zog in das Haus am St. Agnes Crescent und lebte fortan in völliger Abgeschlossenheit von der Gesellschaft.
    {49} Er erwartete Samantha, wie das seine Gewohnheit war, Punkt sieben an der Hintertür seines Hauses. An diesem Morgen jedoch saß ein angestaubter Zylinder auf seiner schlohweißen Mähne, und er trug einen Ulster über dem Gehrock.
    »Ich muß ausgehen. Zwar widerstrebt es mir, aber diese Angelegenheit kann ich nur persönlich erledigen.«
    Obwohl Samantha sich sogleich nach seinem Weggang mit Energie in ihre Arbeit stürzte und obwohl sie es gewöhnt war, allein zu arbeiten, war ihr gar nicht wohl bei dem Gedanken, daß sie nun tatsächlich mutterseelenallein in diesem unheimlichen Haus war. Um sich selber Mut zu machen, summte sie vor sich hin, während sie fegte und wischte, flüsterte kleine Monologe beim Abspülen, ging mit künstlich schwerem Schritt durch Zimmer und Gänge. Irgendwann stand sie ganz unvermeidlich vor der verbotenen Tür.
    Wie so oft schon zuvor, drückte sie vorsichtig das Ohr an die Füllung. An manchen Tagen hatte sie merkwürdige Kratz- und Schabgeräusche gehört, ab und zu auch mal ein Poltern und erst gestern ein Klirren, als würde eine schwere Kette über den Boden gezogen. An diesem Morgen war es totenstill.
    Sie trat einen Schritt zurück und musterte die Eichentäfelung.
    Das Gehörige wäre es gewesen, jetzt umzudrehen und in die Küche zurückzukehren. Aber sie stand wie angewurzelt. Immer heftiger drängte die kindliche Neugier sie, zu erforschen, was sich hinter der verbotenen Tür befand, bis sie schließlich ganz langsam die Hand ausstreckte und vorsichtig die Klinke berührte. Zu ihrem Schrecken bewegte sich die Tür nach innen.
    Sie riß die Hand zurück, als hätte sie etwas gebissen. Er hatte das Zimmer nicht abgesperrt.
    Samantha schluckte einmal, dann legte sie die Hand flach auf die Türfüllung und drückte behutsam. Die Tür schwang langsam auf. Von der anderen Seite gähnte ihr schwarze Finsternis entgegen. Mit angstvoll aufgerissenen Augen trat Samantha einen Schritt vor. Dann noch einen. Und noch einen, bis sie schließlich in dem geheimnisvollen Zimmer stand.
    Es war eiskalt. Nirgends schimmerte ein Licht. Zwischen den schweren Samtportieren stahl sich ein dünner Strahl grauen Morgenlichts in die Dunkelheit. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Düsternis, und sie konnte verschiedene Gegenstände erkennen.
    Nie in ihrem Leben hatte sie ein so vollgepfropftes und unordentliches Zimmer gesehen.
    {50} Dicke Bücher und Folianten stapelten sich zu wackeligen Türmen, die aussahen, als könnte der leiseste Windhauch sie umstoßen; an den Wänden standen große Holzkisten; Berge von Papieren häuften sich auf einem Tisch, an den Wänden hingen Bilder und graphische Darstellungen; ausgestopfte Eulen und Falken hockten auf dem Kaminsims, und im Kamin selbst stand eingezwängt eine große, noch ungeöffnete Kiste. Im ganzen Zimmer war kaum genug Platz, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.
    An der einen Wand stand ein langer Arbeitstisch voller Flaschen und Dosen und vielerlei Glasgegenständen, denen Samantha keinen Namen geben konnte. Über dem Tisch bogen sich Holzborde unter der Last weiterer Bücher, Papiere und Flaschen.
    Dann sah sie es plötzlich. Ein Glasgefäß, in das ein kleiner Mensch eingesperrt war.
     
    Isaiah Hawksbill eilte durch die Hintertür ins Haus und schüttelte sich die Regentropfen von Schultern und Armen. Er schälte sich aus dem langen Schal, den er sich um die untere Gesichtshälfte gewickelt hatte, und säuberte sich die Schuhe auf dem Abtreter.
    Fasziniert neigte sich Samantha näher zu dem Glasbehälter und starrte offenen Mundes den kleinen Gefangenen mit den winzigen ausgebreiteten Armen an. Er wollte offensichtlich hinaus.
    Hawksbill ging tief in Gedanken durch den dunklen Flur und blieb abrupt stehen, als er die Tür zu seinem Arbeitszimmer offenstehen sah.
    Samantha hob sich auf die Zehenspitzen und streckte die Arme nach dem

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