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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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erkrankten Brust und setzte mit der anderen einen schnellen sauberen Schnitt.
    Die Zuschauer zogen ihre Taschenuhren, um die Zeit zu nehmen. Samantha hörte, wie jemand leise sagte: »Er ist der schnellste Mann seit Liston. Ich hab’ mal gesehen, wie er mit einem einzigen Schnitt Bein und Hoden des Patienten, drei Finger seines Assistenten und den Rockzipfel eines Zuschauers abgetrennt hat.«
    Samantha starrte in grauenvoller Faszination zum Operationstisch hinunter.
    Donnernder Applaus riß Samantha aus ihrer Erstarrung. Sie sah, daß die Patientin gnädigerweise das Bewußtsein verloren hatte und die drei Freundinnen der Medizinstudenten ebenfalls.
    Während man die Patientin hinaustrug, wusch sich Mr. Bomsie die Hände und wandte sich wieder seinem Publikum zu. Doch Samantha und Freddy blieben nicht, um sich seine Ausführungen anzuhören. Sie schlüpften wieder hinaus, rannten die Treppe hinunter zum Korridor, um zu sehen, wohin die Patientin gebracht wurde.
    Niemand beachtete die beiden verwahrlost aussehenden Kinder, die hinter den Trägern mit ihrem Weidenkorb durch den Gang liefen. Sie gelangten in einen Vorraum, der voller Leute war: Ärzte und Medizinstudenten, Patienten, die schwach an den Wänden lehnten oder auf dem Boden hockten, Besucher in Zylindern und raschelnden Krinolinen. {42} Durch eine der Türen, die von dem Vorraum abgingen, trugen die Träger den Weidenkorb.
    Freddy sah Samantha mit einem leicht boshaften Grinsen an. »Du schaust ein bißchen käsig aus, Prinzessin. Du hast wohl genug, was?«
    Sie hatte Mühe, überhaupt einen Ton hervorzubringen. »Soviel wie du halt’ ich leicht aus.«
    Unbemerkt huschten sie in den Krankensaal.
    Solch durchdringender Gestank schlug ihnen entgegen, daß sie abrupt stehenblieben. Samantha drückte einen Zipfel ihres Halstuchs an die Nase, während sie sich mit großen Augen umsah. Vor ihr dehnte sich ein langer schlauchförmiger Raum mit Betten zu beiden Seiten und einem offenen Kamin am hinteren Ende. Den aufsteigenden Brechreiz unterdrückend, ließ Samantha den Blick über die Betten schweifen, in denen nur Frauen lagen. Manche stöhnten, manche schrien, einige flehten Gott an, sie sterben zu lassen, einige lagen noch in gnädiger Bewußtlosigkeit. Es waren lauter Frauen, die vor kurzem operiert worden waren.
    An einem Tisch beim Kamin saß eine Schwester des Allerheiligen-Ordens im schlichten braunen Kleid und weißer Haube und trank Tee. Mehrere Krankenhelferinnen waren im Saal bei der Arbeit, leerten Toiletteneimer, betteten Patientinnen um, legten Kompressen auf, fegten den Boden.
    Samantha hätte nicht sagen können, was schlimmer war, der atemberaubende Gestank oder das gräßliche Schreien und Klagen, das ihr so grauenvoll erschien wie das sprichwörtliche Heulen und Zähneklappern der Hölle. Doch sie konnte sich die Ohren nicht zuhalten, da sie ihr Tuch an die Nase drücken mußte. Nicht einmal aus den verkommensten Hinterhöfen des Elendsviertels um den St. Agnes Crescent kannte sie solchen Gestank. Woher er kam, war leicht zu sehen: aus schwärenden Wunden und von brandigem Fleisch. Es war der Gestank bei lebendigem Leib verfaulender Menschen.
    Der Weidenkorb war jetzt leer. Die bedauernswerte Frau, deren Brust immer noch nackt und blutig war, hatte man in ein Bett gelegt. Am Nachbarbett standen ein Chirurg und drei Medizinstudenten und untersuchten ein hübsches junges Mädchen, dem man das Bein abgenommen hatte. Der Stumpf ruhte auf einer flachen Schale, in die der Eiter abfloß. Während der Chirurg seinen Studenten einen Vortrag hielt, nahm er dem Mädchen den Verband ab, ein Stück mit einem Monogramm versehener Damast – wohltätige Spende irgendeiner reichen Familie. Er schälte das Tuch vom Stumpf, riß, wo es klebte, und warf es ans Fußende des Bettes. Eine der Schwestern nahm es, sobald es dort niedergefallen {43} war, trug es zum Nebenbett, wo schluchzend die junge Frau mit der Brustamputation lag, und befestigte das schmutzige Tuch mit Pflastern über der Operationswunde.
    Eine zweite Schwester, die zu Hilfe kam, entdeckte die beiden Kinder und rief barsch: »He, ihr beiden da! Raus mit euch!«
    Freddy und Samantha ergriffen die Flucht, rannten durch den Vorraum voller Menschen und stürmten die Treppe hinunter auf die Straße. Mit fliegenden Haaren jagten sie weiter, sprangen über Zäune und Rinnsteine, bis sie schließlich vor Erschöpfung keuchend an eine Mauer fielen.
    Freddy fing an zu lachen. »Junge, Junge, das hätte

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