Sturmjahre
gar keine Eltern. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, und mein Vater –« Sie schluckte.
»Und was willst du anfangen, wenn du hier wieder weggehst? Hast du darüber schon einmal nachgedacht?«
Elizabeth Blackwell sprach so freundlich, mütterlich beinahe, daß Samantha instinktiv spürte, daß sie ihr vertrauen konnte.
»Ehrlich gesagt, Frau Doktor, will ich überhaupt nicht hierbleiben. Ich würd’ am liebsten abhauen. Ausreißen.«
»Und wohin würdest du dann gehen?«
»Keine Ahnung.«
»Weißt du, Samantha, mir ist aufgefallen, daß du mit Kranken sehr gut umgehen kannst. Ohne Angst und ohne Scheu. Du hast mich heute abend richtig beeindruckt. Du hast da wohl Erfahrung?«
{81} Samanthas Gesicht hellte sich auf. »O ja, die hab’ ich. Ich hab’ Freddy gepflegt, wissen Sie, und dann meinen Vater. Der hatte ganz schlimme Verbrennungen.«
»Aha …« Elizabeth Blackwell schien zu überlegen, dann sagte sie: »Hast du einmal daran gedacht, so einen Beruf zu erlernen, wo du mit Kranken umgehen mußt?«
»Sie meinen, als Krankenschwester?«
»Hm, vielleicht, aber ich dachte eigentlich an den Arztberuf. Du könntest Ärztin werden.«
Samantha stellte ihre Teetasse nieder. »Ärztin? Frauen können doch gar keine Ärzte werden.«
»Aber natürlich können sie. Schau mich an!«
»Aber – Sie sind doch kein richtiger Arzt, oder?«
Elizabeth Blackwell lachte erheitert. »Und ob ich das bin.«
»Aber Ärzte schneiden doch an den Leuten rum. Das tut eine Dame nicht.«
»Liebes Kind, am Studium der Natur ist nichts Abstoßendes oder Undamenhaftes. Jeder Muskel, jede Sehne und jeder Knochen ist ein göttliches Kunstwerk.«
Samantha sah sie aufmerksam an. »Wie ist denn das, wenn man eine Ärztin ist?«
»Ich will dir ein Beispiel geben. Neulich kam ein Mann mit einem Leiden zu mir, das ich heilen konnte. Als ich ihm danach mein Honorar nannte, sagte er: ›Für
das
Geld hätte ich mir einen richtigen Arzt leisten können.‹«
Samantha starrte einen Moment nachdenklich in die Ferne. »Eine Frau, die Arzt ist. So was …« Sie beugte sich in ihrem Sessel vor. »Und wie wird man Arzt?«
»Vor allem muß man den Wunsch dazu haben, und ich glaube, den hast du. Dann braucht man eine gute Schulbildung. Und man muß Manieren lernen und sich wie eine Dame benehmen.«
Samantha verzog das Gesicht. »Sie meinen, ich muß hierbleiben und lernen, wie man seine Teetasse hält und das alles?«
»Ja, denn das gehört auch dazu. Um an einer Universität aufgenommen zu werden, braucht man das Bakkalaureat. Das kannst du hier bekommen, wenn du nicht wegläufst. Und es ist auch wichtig, richtig sprechen zu lernen.«
»Ach, da hab’ ich immer meine Schwierigkeiten gehabt. Freddy hat gesagt, ich hätt’ kein einziges Wort rausgelassen, bis er mal eine alte Katze aufschlitzen wollte. Da war ich vier Jahre alt. Und wenn ich jetzt fremde {82} Leute treffe, geht’s mir immer noch so, daß mir erstmal die Spucke wegbleibt. Dann bin ich stumm wie ein Fisch.«
»Das mußt du überwinden, denn Ärzte müssen mit ihren Patienten sprechen können.«
Während Samantha sich in ihre eigenen Gedanken vertiefte, stand Elizabeth Blackwell auf und nahm aus ihrem Köfferchen eine Visitenkarte, die sie Samantha gab.
»Ich würde mich sehr freuen, wenn du mich einmal besuchst. Das ist meine Adresse in London. Denk noch einmal gründlich darüber nach, was du mit deinem Leben anfangen willst, und wenn du mit mir darüber sprechen willst, brauchst du dich nur zu melden.«
Als Samantha wieder in ihrem Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen. Ihr ganzer Körper kribbelte vor Erregung, und die Gedanken wirbelten ihr wie Schneeflocken durch den Kopf. Während sie den ruhigen Atemzügen ihrer Zimmergenossinnen lauschte, entfaltete sich ein ganzer Bilderbogen vor ihren Augen: Mrs. Steptoe, wie sie bewußtlos am Fuß der Treppe gelegen hatte; sie selbst, wie sie ohne Überlegung zu ihr hinuntergelaufen war; das Eintreffen der Ärztin; die blitzenden Instrumente; das Blut; die beeindruckende Ruhe und Gelassenheit der Ärztin. Samantha versuchte, das alles zu verstehen. Obwohl sie zu Tode erschrocken gewesen war, nicht weniger in Panik als Miss Whittaker, war sie nicht davongelaufen. Was hatte sie als einzige die Treppe hinuntergetrieben? Was hatte sie veranlaßt, der Ärztin trotz ihrer Angst zu assistieren?
Bin ich wirklich so anders? Und wenn ja, in welcher Hinsicht? War es so einfach, wie Dr. Blackwell es ausgedrückt
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