Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
hatte, daß sie mit Kranken gut umgehen konnte? Sie dachte an die alte Tigerkatze, an Freddys zerquetschtes Bein, an ihren Vater, wie er dem Tode nahe in seinem Bett gelegen hatte.
    Lag da die Antwort? Vielleicht, ja. Abgesehen von diesem bisher ungekannten, schönen Gefühl, das sie Dr. Blackwell entgegenbrachte, war noch etwas anderes in Samantha wach geworden, etwas, das sie kannte, aber nie zu deuten gewußt hatte. Jetzt wußte sie, was es war. Während sie der Ärztin assistiert hatte, hatte ein unerschütterliches Zielbewußtsein alle Ängste verdrängt. Das Gefühl war ihr vertraut, weil sie es schon früher empfunden hatte, wenn auch nicht in so starkem Maß. Sie kannte es aus den Tagen, als sie Freddy gesundgepflegt, als sie Tag um Tag am Bett ihres Vaters gesessen und sich um ihn gekümmert hatte. Und vielleicht war es auch damals schon die Kraft gewesen, die sie getrieben hatte, die verletzte alte Tigerkatze vor dem Tod zu retten …
    {83} Samantha holte einmal tief Atem und hielt die Luft so lange an, daß sie meinte, ihre Lunge würde platzen. Ärztin werden, dachte sie aufgeregt. Eine Ärztin wie
sie.
Das tun, was
sie
an diesem Abend getan hat!
    Samantha war so kribbelig und aufgedreht, daß sie am liebsten aus dem Bett gesprungen wäre. Heute nachmittag noch war alles trüb und dunkel, und ich sah keinen Weg für mich, dachte sie. Jetzt ist alles hell und klar, und ich habe meinen Weg gefunden.

14
    Mrs. Steptoe erholte sich rasch, und im Pensionat kehrte wieder der Alltag ein. Doch einiges hatte sich verändert. Derry Newcastle war noch in der Nacht des Unfalls mit Sack und Pack verschwunden, und es kam ein neuer Mathematiklehrer. Mrs. Steptoe wurde viel freundlicher und toleranter und verlor den Blick eisiger Mißbilligung, der allein schon die Mädchen zittern gemacht hatte.
    Und Samantha Hargrave war wie umgewandelt. Sie stürzte sich von einem Tag auf den anderen mit Feuereifer in die schulische Arbeit, die, wie sie rasch entdeckte, keine übermäßig hohen Anforderungen stellte, da die Lehrerinnen die allgemeine Überzeugung teilten, daß allzuviel Wissen einer Frau nur schaden könne. Viel Wert wurde auf schöngeistige Literatur, gepflegte Sprache und Musik gelegt; man lernte Französisch und Deutsch und bekam Grundkenntnisse in Lateinisch und Griechisch. Die naturwissenschaftlichen Fächer – Botanik, Chemie und Zoologie – waren für Samantha dank ihrer Zeit bei Isaiah Hawksbill leicht zu bewältigen. Sie gab sich größte Mühe, sich gute Manieren anzueignen und erarbeitete sich mit Dr. Blackwells Hilfe, die sie so oft wie möglich in London besuchte, gesellschaftlichen Schliff. Als sich das Slummädchen Samantha im Lauf der Monate zur wohlerzogenen jungen Dame mauserte, wandelte sich die frühere Geringschätzung ihrer Mitschülerinnen allmählich in freundliche Bewunderung und Kameradschaftlichkeit.
    In den folgenden drei Jahren fuhr Samantha mehrmals nach Hause. Wenn sie James überhaupt antraf, so war er unweigerlich angetrunken und feindselig, beschwerte sich über die Arbeit, die ihm sein Studium abverlangte, und über ständigen Geldmangel aufgrund seiner Spielschulden. Meistens jedoch war er nicht da, wenn sie kam. In den Weihnachtsferien des dritten Jahres, als sie sich gerade fertigmachte, um zu Dr. Blackwell zum Abendessen zu gehen, torkelte James völlig betrunken mit {84} der Nachricht ins Haus, daß man ihn im Westminster Krankenhaus an die Luft gesetzt hatte.
    Eine Woche vor ihrem siebzehnten Geburtstag erhielt Samantha ein Schreiben, in dem ihr mitgeteilt wurde, daß James wegen Mordes verurteilt worden war und im Zuchthaus Newgate seine Hinrichtung erwartete.
    Er bat sie flehentlich zu kommen.
    Am Abend vor der Hinrichtung setzte sich Samantha in den Zug nach London, nahm sich dort eine Droschke und kam am Abend in
     Newgate an. Nachdem sie den Kutscher gebeten hatte, auf sie zu warten, stieg sie aus.
    Als sie den abschreckenden grauen Steinbau sah, wäre sie am liebsten auf der Stelle umgekehrt. Dann aber raffte sie entschlossen ihre Röcke und ging die finstere Straße entlang zu der unauffälligen kleinen Tür. Sie würde nach links und rechts Bestechungsgelder verteilen müssen, hatte James ihr geschrieben, und so war es auch. Die Wärter, abstoßend gemein und nach Gin stinkend, maßen sie mit lüsternen Blicken, ehe sie ihr Geld nahmen und sie mit klirrenden Schlüsselbunden durch klamme Steinkorridore führten. Es war wie ein Abstieg zur Hölle – Gestank, Moder

Weitere Kostenlose Bücher