Sturmjahre
waren mit Abfällen und Hundekot übersät, hier und dort schallte Gelächter oder {125} auch wütendes Geschrei durch offene Fenster. Flüchtiges Heimweh packte Samantha; wie ähnlich war dieses Viertel dem St. Agnes Crescent.
Der kleine Straßenjunge erwartete sie und führte sie zu einer Mietskaserne, wo sie vier knarrende alte Treppen hinaufsteigen mußten. Oben stießen sie auf eine weinende Frau, die in Italienisch auf sie einredete. Joshua und Samantha folgten ihr durch den düsteren Korridor zu einer offenen Tür.
Es war schwer zu sagen, ob die Leute, die in der finsteren kleinen Wohnung beisammensaßen, alle zu einer Familie gehörten oder ob sich mehrere Familien die Unterkunft teilten. Alle musterten sie Joshua und Samantha mit mißtrauischen Blicken. Ein großer, brutal wirkender Mann im Unterhemd kam ihnen entgegen.
»Wir brauchen hier keinen
dottore.
Wir werden selber fertig.«
Aus einem Hinterzimmer kam das jämmerliche Weinen eines Säuglings.
»Vielleicht kann ich helfen«, sagte Joshua ruhig.
Die Leute rückten enger zusammen, als müßten sie sich vor einem Feind schützen. Samantha hatte Menschen dieser Art schon früher im St. Agnes Crescent gesehen: blasse, unterernährte Kinder, Frauen, die lange vor ihrer Zeit alt geworden waren, alte Männer mit ausgemergelten Körpern und zahnlosen Mündern.
»Verschwinden Sie«, sagte der Mann.
Joshua nahm seinen Zylinder ab. »Ich würde gern die Mutter sprechen, wenn ich darf.«
Ein mageres junges Ding mit verhärmtem Gesicht kam durch die Tür. Samantha sah die braungefleckten Hände und wußte, daß sie in einer Zigarettenfabrik arbeitete; siebzehn Stunden sieben Tage die Woche für ein paar lumpige Pennies. Und wenn sie auch nur eine Arbeitsstunde versäumte, würde man sie auf der Stelle entlassen. Ersatz war jederzeit zu finden.
Die junge Frau legte ihrem Mann zaghaft den Arm auf die Schulter. Sein grobes Gesicht verzog sich vor Schmerz und Elend.
Eine alte Frau schlurfte auf Joshua zu. »Ich bring’ Sie«, sagte sie.
Sie folgen ihr in das Schlafzimmer, stiegen über die auf dem Boden liegenden Matratzen hinweg, um zu der Orangenkiste unter dem Fenster zu gelangen, in der der Säugling lag.
»Sie nicht essen«, sagte die Alte, während Joshua neben der Kiste niederkniete. »Sie nicht weinen. Nicht bewegen.«
Joshua legte seine Hand auf die kalte, feuchte Haut des Kindes. »Wie lange ist das schon so?«
{126} »Zwei oder drei Tage.«
Er sah zu Samantha hinauf.
»Trismus nascentium.
Kieferstarre. Und sie haben sie selbst verursacht.«
Sehr behutsam hob er das Kind heraus und drückte es an seine Brust. Samantha kniete neben ihm nieder, er nahm ihre Hand und führte sie vorsichtig an den Hinterkopf des Säuglings.
»Fühlen Sie die kleine Mulde? Sie haben das Kind zum Schlafen auf den Rücken gelegt, dadurch entstand Druck auf das Hinterhauptbein. Der Schädel eines Neugeborenen ist sehr weich, das Hinterhauptbein drückt auf das Gehirn und blockiert die Durchblutung eines lebenswichtigen Bereichs. Der Säugling kann nur noch in Stößen atmen, ist unfähig Nahrung aufzunehmen und wird von heftigen Krämpfen befallen, bei denen Arme und Beine steif werden. Wenn früh genug etwas getan wird, kann man das Kind retten.«
»Und ist hier noch etwas zu tun?« flüsterte Samantha.
»Wenn die Alte die Wahrheit sagt und dieser Zustand erst seit zwei oder drei Tagen besteht, können wir helfen. Wir brauchen das Kind nur auf die Seite zu legen. Dann wird das blockierte Gebiet wieder durchblutet, und die normalen Körperfunktionen setzen wieder ein.«
Behutsam legte er das Kind wieder in die Kiste und stützte seinen Rücken mit einer zusammengelegten Decke. Dann stand er auf und drehte sich um. An der Tür hatte sich die gesamte Familie versammelt.
»Achten Sie darauf, daß das Kind immer auf der Seite liegt«, sagte er. »Sorgen Sie dafür, daß es nicht auf den Rücken rollt. Dann ist in ein paar Stunden alles wieder gut.«
Sie starrten ihn verständnislos an.
»Haben Sie das verstanden?« wandte er sich an die alte Frau.
»Si! Si!«,
versicherte sie nickend.
»Capisco, capisco! Mille grazie, Signor Dottore!«
Er legte seine Hand leicht auf Samanthas Arm und führte sie durch die Wohnung und das Treppenhaus auf die Straße hinaus.
»Manche Fälle sind einfach«, sagte er. »Wenn die Leute tun, was ich gesagt habe, geht es dem Kind morgen wieder gut und es kann essen. Manchmal kommt es nur auf einen guten Rat an.«
In Joshua
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