Sturmjahre
absichtlich unwissend gehalten. Es ist eine Schande.«
»Und wie kann man Mrs. Malloy helfen?«
»Wenn sie Glück hat, ist es nur ein Eierstocktumor, der durch einen winzigen Einschnitt entfernt werden kann. Oder vielleicht ein Fibrom am Uterus. Die Ärzte im Woman’s Hospital haben Erfahrung darin, den Unterleib rasch zu öffnen, die Masse zu entfernen und die Wunde schnellstens und mit minimalem Blutverlust wieder zu schließen.«
»Und wenn es etwas anderes ist?«
»Dann kann man gar nichts tun. Die Bauchchirurgie steckt noch in den Kinderschuhen. In Deutschland wird experimentiert, aber bis jetzt ohne Erfolg. Ich zweifle nicht daran, Miss Hargrave, daß der Tag kommen wird, an dem Unterleibsoperationen Routine sein werden, aber derzeit, wo es noch keine Möglichkeit gibt, die starken Blutungen zu stillen, und jede Narkose tödlich sein kann, wagt sich kein Arzt daran.«
Immer war er sachlich und professionell. Nie zeigte er auch nur das geringste Interesse an Samantha persönlich. Samantha, die so gern einen {129} Zugang zu ihm gefunden hätte, mußte sich damit trösten, daß sie bei ihm mehr lernte als jeder Student in Vorlesungen und Seminaren.
Eines Nachmittags kam eine junge Polin, die mit der Hand in die Nähmaschine geraten war. Weinend, ein blutiges Taschentuch um die Hand, kam sie ins Sprechzimmer.
»Bedrückend diese Fälle«, sagte Joshua leise, während er vorsichtig das Taschentuch von der verletzten Hand entfernte. »Sie wird ein paar Tage nicht arbeiten können und infolgedessen die Arbeit verlieren. Ohne Einkommen wird sie ihren Schlafplatz in einer dieser überfüllten Mietskasernen nicht mehr bezahlen können und im wahrsten Sinn des Wortes auf der Straße enden.«
Samantha hielt das zitternde Mädchen fest um die Schultern. »Aber hier in der Nähe sind doch gar keine Fabriken, Dr. Masefield.«
Er sah nicht von seiner Arbeit auf. »Man heuert diese Frauen fast alle als Heimarbeiterinnen an, weil dann die Gesetze für Fabrikarbeiter nicht für sie gelten. Sie haben überhaupt keinen Schutz. Diese armen Dinger schuften jeden Tag zwölf Stunden, haben kaum genug zu essen, leben in Massenunterkünften mit dem übelsten Gesindel zusammen und bemühen sich, trotz allem ihre Würde zu bewahren. Ich bin sicher, viele von ihnen hatten in ihrer alten Heimat ein menschenwürdigeres Leben.«
Als er die Faust des Mädchens öffnen wollte, schrie diese laut.
»Fünf Tropfen Magendie, Miss Hargrave.«
Er hatte ihr gezeigt, wie man Narkotika verabreichte. Samantha gab das Morphium auf einen Löffel süßen Sirup und gab es dem Mädchen ein. Dann sprühte Joshua den Handrücken mit Äther ein. Als er taub geworden war, gab er in jeden Einstich einen Tropfen Salpetersäure. Zischend fraß die Säure sich ins Fleisch, von dem dünne Rauchfäden aufstiegen.
Das Mädchen schrie und versuchte aufzuspringen, aber Samantha hielt sie fest. Nachdem Joshua die Verletzungen auf Nadelsplitter untersucht hatte, band Samantha die Hand ein, und Joshua gab dem Mädchen eine kleine Flasche mit einem schmerzstillenden Mittel. Auf einen Zettel schrieb er: ›Bei starken Schmerzen einen Teelöffel.‹
»Wir verlangen kein Honorar von ihr«, sagte er zu Samantha.
9
Mitte November erhielt Samantha ein kurzes Schreiben von Emily Blackwell, in dem diese ihr mitteilte, daß sie in der ersten Januarwoche ihr Studium am Infirmary aufnehmen könne. Als sie sich am Abend mit {130} dem Brief in ihr Zimmer zurückzog, empfand sie keine Spur der freudigen Erregung, die er eigentlich hätte auslösen müssen. Sie konnte einzig daran denken, daß sie schon in sechs Wochen die Masefields für immer verlassen würde.
Verärgert über sich selbst, schüttelte sie den Kopf und griff, um sich abzulenken, nach dem
Boston Medical and Surgical Journal.
Gleich die Überschrift des ersten Aufsatzes sprang ihr ins Auge: ›Die Frauenfrage oder wer sind die besseren Ärzte‹.
Der Autor, ein gewisser Dr. Charles Gage, ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, daß er die Absicht hatte, den
wissenschaftlichen
Nachweis zu führen, daß Frauen für den Arztberuf nicht geeignet waren.
›Die Frau‹, schrieb er, ›ist von ihrer Natur aus nicht dazu veranlagt, die Ängste, nervlichen Belastungen und Erschütterungen, die die ärztliche Praxis mit sich bringt, auszuhalten. Der Frau fehlt es von Natur aus an dem Mut und der Bereitschaft zum Risiko, die unerläßlich sind, um die schwierigen und häufig gefahrvollen Entscheidungen zu treffen,
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