Sturmjahre
Sie noch nicht?« fragte er, während er zwei Gläser nahm und Brandy einschenkte.
»Ich –« Sie trank einen Schluck Brandy, als könne das ihr Mut machen. »Mir geht etwas im Kopf herum.«
»Das dachte ich mir schon. Sie wirkten in den letzten Tagen manchmal zerstreut.«
»Oh! Waren Sie mit meiner Arbeit –«
»Keine Sorge. Ihre Arbeit war ausgezeichnet, wie immer.«
Sie lächelte. Es war das erstemal in den langen Wochen ihrer Zusammenarbeit, daß er sie lobte.
»Handelt es sich um etwas, das Sie mit mir besprechen wollten, Miss Hargrave?« fragte er, und seine Stimme war unerwartet weich und teilnahmsvoll.
»Ja.« Sein Blick stürzte sie in tiefste Verwirrung. Sie mußte wegsehen. »Ich habe mir überlegt, Dr. Masefield, daß es vielleicht ein Fehler ist, wenn ich am Infirmary studiere.«
Als er schwieg, stellte sie ihr Glas auf den Sims und ging ein paar Schritte weg, um seinem Bann zu entweichen.
»Ich habe mir überlegt, daß es vielleicht besser ist, wenn ich auf eine reguläre Männeruniversität gehe wie Dr. Blackwell damals.«
Zu ihrer Überraschung sagte er: »Der Meinung bin ich auch. Aber Sie werden die größten Schwierigkeiten haben, eine solche Universität zu finden.«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte sie lebhaft. »Aber ich werde alles versuchen, und wenn es nicht gelingt, kann ich immer noch am Infirmary studieren.«
»Und wie wollen Sie es anstellen, an einer solchen Universität aufgenommen zu werden?«
»Ich hatte gehofft, daß Sie mir helfen würden.«
»Das tue ich gern. Ich schlage vor, wir machen eine Liste aller Universitäten, die in Frage kommen, und dann schreibe ich Ihnen eine Empfehlung. So ganz unbekannt ist mein Name in der Medizin nicht.«
{133} Samantha war tief erleichtert. »Und ich kann weiter hier arbeiten?«
»Aber ja. Sie können bleiben bis zum nächsten September. Dann haben Sie gut ein Jahr Praktikum.«
»Dr. Masefield, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll …«
»Ich handle aus reinen egoistischen Motiven, Miss Hargrave«, erwiderte er. »Mir bleibt auf diese Weise eine hervorragende Assistentin erhalten, und meiner Frau eine Freundin und Pflegerin, die sie sehr schätzt.« Er stellte sein Glas auf einen kleinen Tisch. »Aber es ist spät …«
»Natürlich«, sagte Samantha hastig. »Verzeihen Sie. Gute Nacht, Dr. Masefield, und vielen Dank.«
Er stand da und lauschte ihren Schritten nach, bis sie im oberen Flur verklangen.
10
Estelles Befinden besserte sich ganz plötzlich. Im Februar und März fühlte sie sich so kräftig, daß sie allein aufstehen und ein wenig in ihrem Zimmer umhergehen konnte. Samantha war überglücklich, doch Joshua ließ sich nicht zu trügerischen Hoffnungen verleiten und war deshalb nicht ganz so bitter enttäuscht und niedergeschlagen wie Samantha, als der Rückschlag kam, und Estelle, die einen Zug bekommen hatte, so schwer erkrankte, daß sie alle um ihr Leben bangten. Stundenlang saß Joshua am Bett seiner Frau und versuchte mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, sie am Leben zu erhalten. Doch sie verfiel von Tag zu Tag. Zum erstenmal in ihrem Leben zweifelte Samantha an der sogenannten Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes.
Louisas Reaktion auf ihren Bericht über Estelles beängstigenden Zustand fand sie empörend. »Deine Tränen machen die Frau auch nicht wieder gesund, Samantha. Sieh doch den Tatsachen ins Auge: sie stirbt. Und wenn sie tot ist, ist er frei und kann heiraten.«
In einem unbedachten Augenblick im März, als Louisa ihr erzählt hatte, sie sei ziemlich sicher, daß Luther ihre Gefühle erwidere, hatte Samantha der Freundin endlich ihre heimliche Zuneigung zu Joshua gestanden. Jetzt bereute sie es. Sie wollte von Louisa nicht die verwerflichen Hoffnungen ausgesprochen hören, die sie selbst sich nicht einzugestehen wagte.
»Estelle wird so bald nicht sterben, Louisa. Mit Leukämie kann man jahrelang leben. Außerdem liebt Dr. Masefield seine Frau.«
Louisa begnügte sich mit einem wissenden Lächeln statt einer Antwort.
{134} Im Juni kamen die ersten Antworten auf die sechsundzwanzig Bewerbungsschreiben, die Samantha abgeschickt hatte.
›Madam‹, schrieb man ihr von einem berühmten College im Norden des Staates, ›tun Sie sich und der Gesellschaft den Gefallen und geben Sie diese hirnverbrannte Idee auf. Nur eine junge Frau von fragwürdiger Moral würde unter lauter Männern studieren wollen.‹
In einem anderen Schreiben hieß es: ›Erinnern Sie sich ihrer
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