Sturmjahre
weg. Da ist mir manchmal ganz schön einsam. Ein bißchen Gesellschaft würde mir nur guttun.«
Samantha gefiel Hannah Mallones Gesicht. Es wirkte ehrlich, und die Augen blitzten lebendig. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Mallone.«
»Nennen Sie mich Hannah.«
Das Haus war in der Tat groß, ein einstöckiges Gebäude im Kolonialstil, das auf einem Wiesengrundstück am Ortsrand stand. Als Sean Mallone fünfzehn Jahre zuvor mit seiner jungen Frau nach Lucerne gekommen war, hatten die beiden von einer großen Familie geträumt. Doch die oberen Räume standen fast alle leer.
»Wir sind hier nicht weit von der Hosenträgerfabrik«, bemerkte Hannah am Abend beim Tee. »Sean hat eine Zeitlang dort gearbeitet, ehe er unter die Fallensteller gegangen ist.«
Samantha sah sich in dem großen Wohnraum um. »Das Haus ist so groß, Hannah. Warum vermieten Sie nicht einige Zimmer?«
»Das wollte Sean nicht. Er hat seinen Stolz, wissen Sie, und was für einen! Die Leute hier sollen nur ja nicht glauben, wir hätten so was nötig. Sean verdient gut mit seiner Fallenstellerei, und wenn’s mal so weit ist, daß wir genug beisammen haben, hängt Sean seinen Kram an den Nagel und bleibt für immer hier bei mir.«
Hannah stand auf, nahm eine Daguerreotypie vom Kaminsims und brachte sie Samantha. »Das ist mein Mann. Seine Familie stammt von alten irischen Königen ab.«
Samantha war beeindruckt. In Lederzeug und Pelze gekleidet, stand Sean Mallone lässig auf sein Gewehr gestützt und lächelte strahlend, ein gutaussehender, dunkelhaariger Mann.
»Als ich Sean vor sechzehn Jahren kennenlernte, arbeitete er in der Ziegelei in Haverstraw. Aber auf die Dauer hielt er das nicht aus. Er wollte raus ins Freie, in die Natur. Er war nach Manhattan gekommen, weil er sich nach neuen Möglichkeiten umsehen wollte, und da lernten wir uns kennen. Ich war damals vierundzwanzig. Ich war mit einem der Segler nach Amerika gekommen, die die Iren vor der Hungersnot retteten. Als ich Sean begegnete, war ich schon vier Jahre da …«
{141} Hannah klaschte plötzlich in die Hände. »Schluß jetzt mit den Erinnerungen. Sie sind bestimmt todmüde. Marsch ins Bett mit Ihnen. Ich hab’ so das Gefühl, daß sie in den nächsten Tagen viel Kraft brauchen werden.«
Samantha brauchte nicht nur Kraft, wie sich zeigte, sondern auch ein dickes Fell. Anfangs war sie bestürzt über die Art und Weise, wie die Leute von Lucerne ihr begegneten, aber aus der Bestürzung wurde rasch Zorn. Als wäre sie eine Aussätzige, gingen die Frauen, wenn sie ihr begegneten, auf die andere Straßenseite, blieben stehen und gafften ihr tuschelnd nach. Kinder rannten ihr lachend und schreiend hinterher, die Männer hielten es nicht für nötig, den Hut zu ziehen, und wenn sie die Straße hinunterging, nahm sie oft aus dem Augenwinkel wahr, wie sich die Vorhänge an den Fenstern bewegten.
Nachdem sie Dr. Jones’ Formular ausgefüllt hatte, brachte sie es eines Nachmittags zum College. Ein paar Studenten, die nichts zu tun hatten, standen in der Säulenhalle herum. Als sie an ihnen vorüberging, starrten sie sie herausfordernd an und fingen lauthals zu lachen an. Dr. Jones’ Sekretär, ein steifer junger Mann, nahm das Formular mit spitzen Fingern, ohne sie eines Wortes zu würdigen.
»Ich weiß nicht, ob ich das auf die Dauer aushalte, Hannah«, sagte sie am Abend, als sie gemeinsam das Essen richteten.
»Aber natürlich, Liebchen.«
Hannah rührte energisch ihren Pudding.
»Das geht schon vorrüber. Jetzt sind Sie für die Leute noch interessant, aber mit der Zeit wird ihnen der Spaß langweilig werden und sie werden sich jemand anderen suchen, den sie piesacken können. Für Sean und mich war’s auch nicht leicht, als wir hierher kamen, zwei runtergekommene irische Katholiken unter lauter hochnäsigen Protestanten. Aber die Leute haben sich längst an uns gewöhnt, und bei Ihnen wird das nicht anders sein.«
Samantha lächelte. Vielleicht hatte Hannah recht, und die Wellen würden sich glätten.
12
Wieder dieses merkwürdige Verhalten. Als hätte er gehofft, sie würde sich wie durch ein Wunder in Luft auflösen. Am Tag des Unterrichtsbeginns erschien Samantha pünktlich in Dr. Jones’ Büro und wurde mit gereizter Überraschung und offenem Unbehagen empfangen. Nachdem {142} Dr. Jones ihr zerstreut ein paar Worte über damenhaftes Verhalten gesagt hatte, führte er sie nach oben zum Hörsaal.
Doch er führte sie nicht durch die Haupttür hinein,
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