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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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sondern brachte sie in ein kleines Vorzimmer, das, wie er ihr erklärte, Patienten und Vortragenden als Wartezimmer diente. Er bestand darauf, daß sie sich setzte. Dann zog er die Weste über dem dicken Bauch herunter und trat mit gewichtigem Schritt in den Hörsaal hinaus.
    Samantha hatte durch die geschlossene Tür das Donnern trampelnder Füße und lautes Gegröle gehört. Doch sobald der Dekan den Hörsaal betrat, wurde es still. Vielleicht, dachte sie, ist das der Grund für Dr. Jones’ Nervosität. Er hat Angst vor dem Aufruhr, der entstehen könnte, wenn eine Frau im Hörsaal auftaucht.
    Sie hörte, wie er die Studenten ansprach. Seine Stimme war gedämpft. Sie verstand nicht ein einziges Wort. Als die Tür geöffnet wurde, fuhr sie zusammen.
    »Miss Hargrave?«
    Sie stand auf und folgte Dr. Jones in den Hörsaal.
    Das Sonnenlicht des frühen Morgens flutete durch die hohen Fenster. Samantha kniff einen Moment geblendet die Augen zusammen, während sie mit Dr. Jones über das Podium ging. Zu ihrer Linken waren Tafeln und anatomische Schaubilder aufgehängt; rechts war der Saal, hufeisenförmig ansteigende Sitzreihen voller junger Männer. Es war so still, daß das Rascheln ihrer Röcke deutlich zu hören war. Dr. Jones begleitete sie zu einem Pult am Rand des Podiums, abseits von allen anderen, und Samantha setzte sich, den Rücken zum Saal. Sie nahm ihren Hut ab und legte ihn unter ihren Stuhl. Dann schlug sie das Heft auf, das sie mitgebracht hatte, tauchte ihre Feder ins Tintenfaß und richtete den Blick erwartungsvoll auf den Dozenten.
    Die beiden Männer standen in der Mitte des Podiums: der füllige Dr. Jones und der große, magere Dr. Page. Beide schienen wie zum Bild erstarrt.
    Dann schien sich Dr. Jones plötzlich zu besinnen. Er räusperte sich geräuschvoll, nickte dem verblüfften Dr. Page kurz zu und eilte auf seinen kurzen Beinen schnurstracks hinaus.
    Dr. Page drückte seinen Zwicker fester auf die Nase, schniefte ein wenig, griff nach seinen Unterlagen und sagte mit unsicherer Stimme: »Die Herzarterien, der Aortenbogen und die vier Herzkammern.«
    Hinter sich hörte Samantha Papier rascheln, dann das Kratzen vieler Federn.
    Zwei Stunden lang sprach Dr. Page. Niemand unterbrach ihn, niemand {143} störte ihn mit einem herausfordernden Zwischenruf, obwohl die Medizinstudenten an allen Universitäten, wie Samantha mehrfach gehört hatte, für ihre Rauhbeinigkeit und Respektlosigkeit bekannt waren. Ab und zu hielt Dr. Page in seinem Wortschwall inne und warf einen Blick auf die neue Studentin, die über ihr Heft gebeugt saß und eifrig schrieb. Er war tief verwundert. Nie zuvor in seiner langjährigen Universitätslaufbahn hatte er so aufmerksame Zuhörer gehabt. Die jungen Männer schrieben tatsächlich mit!
    Am Ende der Vorlesung erschien Dr. Jones an der Tür zum Vorzimmer. Samantha nahm ihre Sachen, ging zu ihm und folgte ihm hinaus. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, brach im Hörsal ein Höllenlärm los.
    »Und so soll das jeden Tag gehen. Zwei Jahre lang«, berichtete sie am Abend, als sie mit Hannah am Kamin saß.
    »Viel Freude hat Ihnen der erste Tag anscheinend nicht gemacht.«
    »Ich weiß selber nicht, ob ich mich freue oder nicht. Ich hatte heute fünf Vorlesungen. Jedesmal mußte ich vorher in diesem blöden kleinen Zimmer warten und dann auf Signal herauskommen. Ich kam mir vor wie die Frau ohne Unterleib auf dem Jahrmarkt.«
    Hannah lachte. »Aber Sie scheinen diesen jungen Draufgängern doch ganz schön Respekt einzuflößen. Warten Sie nur, die werden Ihnen bald aus der Hand fressen.« Hannah machte einen Knoten in ihren Nähfaden und biß das Ende ab. »Ich hab mal gehört, daß an einer Universität die Studenten eine Frau einfach gepackt und an die Luft gesetzt haben.«
    Samantha nickte. Elizabeth hatte ihr die Geschichte erzählt, und andere, die noch schlimmer waren. An einer Universität zum Studium angenommen zu werden, war noch keine Garantie, daß man bis zum Diplom kommen würde: man mußte sich auch gegen die Studenten behaupten. Aber hatten nicht diese Studenten hier gerade für ihre Aufnahme plädiert? Sie hatten, wie Dr. Jones geschrieben hatte, einstimmig ihre Aufnahme befürwortet.
    Dennoch fühlte sich Samantha unbehaglich. Die ganze Woche schon quälte sie dieses nebulöse Gefühl, daß etwas nicht stimme, daß der Schein trog. Sie kam sich vor wie auf einem Pulverfaß.
     
    Bei der ersten Vorlesung des folgenden Morgens ging es um ansteckende

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