Sturmjahre
Krankheiten. Wieder wurde es mucksmäuschenstill im Saal, als Samantha eintrat und sich an ihren Platz setzte. Wieder schrieben alle Studenten eifrig mit. Doch nach einer halben Stunde etwa kam aus einer der {144} oberen Reihen eine kunstvoll aus Papier gefaltete Schwalbe angesegelt und landete auf ihrem Ärmel. Samantha entfernte sie äußerlich ruhig, obwohl sie innerlich zitterte. Wenige Minuten darauf traf ein weiteres Papiergeschoß sie am Hinterkopf. Als die Vorlesung zu Ende war, nahm sie scheinbar gelassen ihre Sachen und ging hocherhobenen Kopfes hinaus, ohne nach rechts oder links zu schauen.
Während der Vorlesung am Nachmittag hüstelte Samantha einmal, und sofort hüstelten hundertneunzehn Studenten hinter ihr. Gegen Ende des Vortrags fiel ihr der Federhalter zu Boden; prompt ließen sämtliche Studenten hinter ihr ihre Federhalter fallen. Der Dozent, Dr. Warkins, wurde rot und geriet vorübergehend ins Stottern, doch er unterbrach seinen Vortrag nicht. Als es vorbei war, ging Samantha so ruhig und gelassen, wie ihr das möglich war, hinaus.
Aber als sie zu Hause ankam, war sie den Tränen nahe.
»Genau das wollen sie doch, Kindchen. Die Freude dürfen Sie denen nicht machen.«
»Ich halte das nicht aus, Hannah! Es ist der reinste Alptraum. Sie warten nur auf einen Ausrutscher von mir. Ich bin so nervös, daß ich mich überhaupt nicht auf die Vorlesungen konzentrieren kann. Warum können sie mich nicht genauso behandeln wie jeden anderen Studenten? Es ist doch keine Sünde, als Frau geboren zu sein.«
»Können Sie nicht mit Dr. Jones darüber sprechen?«
»Ich habe das Gefühl, der würde mir mit Vergnügen sagen, wenn ich das nicht ertragen kann, soll ich wieder nach Manhattan verschwinden. Ich dachte, man wollte mich hier haben. Und jetzt tun sie alles, um mich zu vertreiben.«
»Sie dürfen nicht klein beigeben, Kindchen. Die wollen einen Kampf, also liefern Sie ihn.«
Die Kampfansage erfolgte schon am nächsten Morgen. Samantha wartete im Vorzimmer, bis Dr. Page erschien, dann ging sie in starrer Haltung über das Podium zu ihrem Platz. Dort angekommen, nahm sie ihren Hut ab und wollte sich setzen, als sie in der Mitte des Stuhl eine schwarze Tintenpfütze entdeckte.
Im ersten Moment war sie wie vom Donner gerührt, dann packten sie Zorn und Entrüstung. Sehr langsam und sehr beherrscht, damit nur ja niemand sah, wie sehr sie zitterte, drehte sie sich um und sah zum erstenmal direkt in den Saal. Jemand kicherte unterdrückt.
Die Hände zu Fäusten geballt, ging Samantha drei Schritte nach vorn und blieb vor den Studenten in der ersten Reihe stehen. Zwei von ihnen senkten die Lider, einer lächelte verlegen, der vierte grinste frech.
{145} In einem Ton, der sie selbst überraschte, sagte Samantha laut und klar: »Verzeihen Sie, Sir, haben Sie ein Taschentuch?«
Das Grinsen war wie weggeblasen. »Was?«
Sie streckte eine Hand aus. »Haben Sie ein Taschentuch?«
»Äh – ja. Ja, Madam.« Er griff in seine Hosentasche und reichte ihr verwirrt das sauber gefaltete, frisch gestärkte Taschentuch.
»Danke.« Samantha ging zu ihrem Platz zurück und wischte die Tinte auf.
Von den Studenten gespannt beobachtet, trat sie wieder zu dem verblüfften jungen Mann, reichte ihm das, durchweichte Taschentuch und sagte:
»Vielen Dank. Das war sehr freundlich von Ihnen.«
Einen Moment blieb es still, dann brach im ganzen Saal donnernder Applaus los. Erstaunt blickte Samantha auf und sah ringsherum lachende Gesichter. Die jungen Männer klatschten und trampelten begeistert. Selbst der Junge, dessen Taschentuch ruiniert war, lächelte sie beschämt an und klopfte auf sein Pult.
Samantha hatte die erste Prüfung bestanden.
13
»Sie sind keine üblen Burschen, Miss Hargrave. Viele sind einfache Bauernjungen aus der Umgebung. Sie haben es nicht böse gemeint.«
»Aber ich verstehe es trotzdem nicht, Dr. Jones. Sie haben doch für meine Aufnahme gestimmt. Wieso taten dann alle so überrascht, als ich hier ankam?«
Sie saßen in seinem Arbeitszimmer und tranken Tee. Durch das Fenster sickerte blasses Sonnenlicht.
Dr. Jones gab noch ein Stück Zucker in seine Tasse. »Ja, Miss Hargrave«, sagte er, ohne sie anzusehen, »das ist ein bißchen peinlich. Sehen Sie, ihr Aufnahmeantrag wurde – äh – als eine Art Witz betrachtet.«
Sie sah ihn ungläubig an.
»Natürlich nicht von den Dozenten«, versicherte er hastig. »Wir wußten alle, daß es sich um eine ernstzunehmende Bewerbung handelte.
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