Sturmjahre
Briefe, als sie das Öffnen und Schließen der Haustür hörte. Sie hörte ihn die Treppe hinaufgehen, doch zu ihrer Verwunderung machte er nicht in der ersten Etage halt, wo er und Estelle ihre Schlafzimmer hatten, sondern kam ein Stockwerk höher. Sie wartete mit angehaltenem Atem.
Er klopfte.
Sie schob ihre Schreibsachen weg und stand auf, um ihm zu öffnen. Er hatte ein großes Paket in den Händen.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte er und hielt ihr das Paket hin. »Der Wagen kommt in einer Stunde.«
Verwundert nahm Samantha das Paket. »Was ist das?«
»Ihr Abendkleid, Miss Hargrave. Ich hätte es eigentlich schon früher abholen sollen, aber der kleine Levy hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.« Damit wandte er sich zum Gehen.
»Ich verstehe nicht. Was für ein Abendkleid?«
Mit offenkundiger Ungeduld drehte er sich um. »Das, das Sie heute abend tragen werden«, sagte er in einem Ton, als hätte er es mit einem Kind zu tun.
»Wieso? Ich dachte, der Abend wäre abgeblasen.«
»Wie kommen Sie denn darauf?« fragte er überrascht.
Er schien völlig verständnislos.
»Ich dachte, Sie lehnten es ab, mit mir auf den Ball zu gehen.«
»Aber Miss Hargrave, mein Zorn galt dem schrecklichen Kleid und nicht Ihnen.«
»Sie haben mich vor dem Botenjungen abgekanzelt und mich mit Beleidigungen überhäuft. Und jetzt erwarten Sie, daß ich Sie auf diesen – diesen verdammten Ball begleite, als wäre nichts gewesen!«
»Sie sind ja wütend auf mich, Miss Hargrave«, sagte er ungläubig.
{158} »Ich warte auf Ihre Entschuldigung«, sagte sie kühl.
»Begleiten Sie mich dann auf den Ball?«
Sie sah ihm direkt in die Augen. »Ja.«
»Gut, dann bitte ich um Entschuldigung. Also, können Sie in einer Stunde fertig sein?«
17
Samantha kam sich vor, als schwebte sie auf einer Wolke in ihrem pfauenblauen Satinkleid mit dem tiefen Dekolleté, das ihren schlanken Hals und ihre schön gerundeten Schultern voll zur Geltung brachte. Wie im Traum ging sie die Treppe hinunter, aber als sie Joshua sah, der unten wartete und sie anstarrte, als hätte er eine wunderbare Vision, wurde sie mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurückgerissen. Er sieht Estelle, dachte sie, nicht mich.
Über dem Arm hielt er ein Chinchillacape, das er Samantha um die Schultern legte, als sie zu ihm trat.
»Aber –« begann sie abwehrend, doch er schüttelte den Kopf.
»Es gehört meiner Frau. Sie möchte, daß Sie es tragen.« Er machte die Spange an ihrem Hals zu, und Samantha meinte, die Wärme seines Körpers durch das Cape zu fühlen. Einen Moment ließ er seine Hände auf ihren Schultern liegen. »Sie sehen heute abend sehr schön aus, Miss Hargrave.«
»Danke, Dr. Masefield.«
Er trat von ihr weg. »Denken Sie daran, mich Joshua zu nennen und mich zu duzen, wenn wir auf dem Ball sind.«
Er half ihr die Treppe hinunter, und sie stiegen in den wartenden Wagen. Dicht neben ihr sitzend, zog er die dicken Decken über ihre Knie hinauf. Während der Fahrt sprachen sie kein Wort.
Angesichts der Parade prächtiger Wagen vor dem Haus in der Fifth Avenue, das strahlend erleuchtet war, überfiel Samantha Befangenheit. Und als sie die Leute sah, die aus den Wagen stiegen – Herren im Domino, Damen in Pelzen und funkelnden Juwelen –, kam sie sich tatsächlich wie eine graue Maus vor.
Im Dunkel des Wagens wandte sie sich Joshua zu. »Dr. Masefield ––«
»Meinen Vornamen bitte.« Als der Schlag ihres Wagens geöffnet wurde, fügte er hinzu: »Und vergessen Sie nicht, daß Sie meine Frau sind.«
Die Hand auf Joshuas Arm, stieg sie im Gefolge der anderen Gäste die {159} breite Treppe hinauf und trat, äußerlich selbstbewußt, innerlich eingeschüchtert von der Pracht, auf die Gastgeberin zu, die allein unter ihrem eigenen Porträt stand und die Gäste begrüßte.
Mrs. William Astor, eine kleine, rundliche Frau, trug so schwer an ihrem prunkvollen goldbestickten Abendkleid aus purpurrotem Samt und den kostbaren Juwelen, daß sie sich kaum bewegen konnte, sondern nur statuenhaft in königlicher Haltung dastehen und huldvoll nicken konnte.
Als Joshua sich und ›seine Frau‹ vorstellte, lächelte sie höflich und dankte ihnen für ihre Unterstützung der guten Sache. Dann nahm ein Diener ihnen die Garderobe ab, und sie folgten dem stetigen Strom der Gäste in den Ballsaal.
Samantha blieb einen Moment wie geblendet stehen. Kostbare Gemälde schmückten die Wände, hohe Topfpalmen und verschwenderischer
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