Sturmjahre
sah die Spannung in seinem Gesicht, während er sprach: »Ich würde Sie gewiß nicht bitten, wenn ich nicht in einer höchst unangenehmen Situation wäre.«
Er schwieg und starrte ins Feuer.
»Wissen Sie, daß es in ganz New York nicht ein einziges Krankenhaus gibt, das Krebspatienten aufnimmt, Miss Hargrave?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
»Die Leute haben Angst vor Ansteckung, obwohl jeder Arzt ihnen sagen kann, daß Krebs nicht ansteckend ist. Wenn ein Krankenhaus auch nur einen einzigen Krebskranken aufnähme, würden sich die Krankenzimmer im Nu leeren. Die Folge ist, daß Krebskranke, wie meine Frau, entweder zu Hause oder in Privatkliniken behandelt werden müssen, die teuer sind und häufig sehr weit außerhalb. Viele dieser Kranken bekommen überhaupt keine Behandlung oder Pflege und sterben einsam und von der Gesellschaft im Stich gelassen einen qualvollen langsamen Tod.«
Er hob den Kopf und sah sie an. »Es gibt jetzt eine Bewegung, deren Ziel es ist, im Woman’s Hospital eine Krebsstation einzurichten. Aber dazu sind natürlich Gelder nötig. Aus diesem Grund findet am Heiligen Abend im Haus von Mrs. Astor ein Wohltätigkeitsball statt, dessen Erlös für die Einrichtung dieser neuen Krebsstation verwendet werden soll. Ich habe dazu eine Einladung erhalten.«
Wieder schwieg er und senkte den Blick zum Feuer. Samantha wartete schweigend.
{154} »Ich habe folgendes Problem, Miss Hargrave«, sagte er schließlich. »Ich habe keinem Menschen von der Krankheit meiner Frau erzählt. Niemand in Manhattan weiß davon. Ich nehme an, Mrs. Wiggen hat Ihnen erzählt, daß meine Frau und ich erst im vergangenen Jahr von Philadelphia nach New York übergesiedelt sind. Estelle möchte nicht, daß jemand von ihrer Krankheit erfährt, darum bin ich gezwungen, irgendwie den Schein zu wahren. Die wenigen Leute, mit denen ich hier in New York bekannt bin, haben Estelle nie kennengelernt, aber sie glauben natürlich, sie wäre kerngesund. Ich habe ab und zu sogar ein paar Geschichten über das rege gesellschaftliche Leben meiner Frau erzählt. Unglücklicherweise wird nun erwartet, daß auch meine Frau zu dem Wohltätigkeitsball erscheint.«
»Aber das ist unmöglich!«
»Natürlich. Aber ich kann nicht absagen. Dieses Projekt liegt mir sehr am Herzen, und ich möchte meinen Teil dazu beitragen.«
»Sie könnten doch sagen, daß Ihre Frau erkrankt ist.«
Er sprang auf. »Seit ich in New York bin, war ich viermal auf gesellschaftlichen Veranstaltungen. Jedesmal habe ich eine Ausrede gebraucht, um meine Frau zu entschuldigen – Kopfschmerzen, eine Erkältung, anderweitige Verpflichtungen. Ich kann nicht damit rechnen, daß man mir diese Ausreden ewig glauben wird. Es wird Mrs. Astor beleidigen, glauben zu müssen, daß meine Frau sie meidet.«
»Aber was wollen Sie dann tun?«
Er straffte die Schultern und sah sie an. »Miss Hargrave, könnten Sie sich bereitfinden, die Rolle meiner Frau zu spielen und mich auf den Ball zu begleiten?«
Samantha starrte ihn entgeistert an.
»Ich weiß, es ist eine Zumutung«, fügte Joshua hastig hinzu, »von Ihnen zu verlangen, daß Sie mir bei einem Täuschungsmanöver helfen. Aber es ist nur eine harmlose Scharade, die niemandem schaden wird. Im Gegenteil, sie wird allen nur nützen. Der gute Ruf meiner Frau wird unangetastet bleiben, und ich werde die Genugtuung haben, einer guten Sache geholfen zu haben.«
»Aber wie wird denn Ihre Frau das aufnehmen?«
»Der Einfall stammt ja von ihr.«
Joshua setzte sich wieder. »Niemand hat meine Frau je zu Gesicht bekommen. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß Sie die Rolle nicht spielen können. Ich werde dafür sorgen, daß alles glatt geht. Wir bleiben eine angemessene Zeit, und dann gehen wir wieder.«
Samantha fand die Vorstellung plötzlich sehr aufregend. Ein Abend in {155} der großen Welt der Reichen dieser Welt, und sie an Joshuas Arm, der im Abendanzug bestimmt umwerfend aussah. »Ich habe gar nichts anzuziehen«, sagte sie.
»Dann sind Sie bereit, mir zu helfen?«
Samantha lächelte. »Ja, Dr. Masefield, gern.«
16
Sie wollte für den Abend ein Kleid ausleihen, doch davon wollte Joshua nichts wissen. Niemals würde seine Frau auf einem Ball der großen Gesellschaft in einem geliehenen Kleid erscheinen, sagte er mit Nachdruck. Samantha fragte Estelle um Rat. Auch die meinte, ein Leihkleid käme nicht in Frage. Sie gab ihr die Adresse eines Seidenhändlers in der Fifth Avenue und den Namen einer Schneiderin
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