Sturmjahre
Masefield wußte Hannah nichts. Samantha hatte ihn im September einmal flüchtig erwähnt und dann nie wieder von ihm gesprochen. Aber Hannah hatte bemerkt, wie gespannt Samantha jeden Nachmittag die Post durchsah und wie enttäuscht sie hinterher jedesmal war. Von wem erwartete sie einen Brief? Für Hannah war klar, daß die Sehnsucht nur einem Mann gelten konnte. Aber wer dieser Angebetete war, das hatte Hannah bisher trotz diplomatischer Fragen nicht herausgebracht.
Beim Abschied überraschte Hannah Samantha mit einem Weihnachtsgeschenk, einem zierlichen Ottermuff. Gerührt und ein wenig schuldbewußt sagte Samantha: »Und ich habe nichts für dich.«
Hannah umarmte sie. »Du bist eine arme Studentin, Herzchen. Wenn du erst deine eigene Praxis hast, kannst du dich revanchieren. Paß gut auf dich auf, Samantha, und fröhliche Weihnachten.«
Niemand holte sie ab, aber sie hatte es nicht anders erwartet. Mit Herzklopfen stieg sie vor der Praxis aus der Droschke. Im Vorsaal saßen einige Patienten. Die, die sie kannten, begrüßten sie lächelnd. Samantha ließ ihren Koffer an der Tür stehen, hängte Hut und Mantel auf und machte sich auf die Suche nach Mrs. Wiggen.
Sie fand sie in der Küche beim Spülen.
»Wie schön, daß Sie da sind«, rief sie, als sie Samantha sah, die sie längst liebgewonnen hatte.
{152} »Wie geht es Mrs. Masefield?«
»Nicht gut. Sie hat starke Schmerzen und schlimme Atembeschwerden.«
»Und wie geht es ihm?«
»Wie immer. Er hat gerade Mrs. Creighton im Sprechzimmer.«
Samantha strich sich ordnend über ihr Haar, dann ging sie mit ruhigem Schritt hinaus, obwohl sie am liebsten geflogen wäre. Sie klopfte leicht an die Tür des Sprechzimmers und hörte ihn sagen: »Kommen Sie herein, Mrs. Wiggen.«
An der Tür blieb sie stehen. Er stand mit dem Rücken zu ihr, leicht über Mrs. Creighton geneigt, ein Mahagonihämmerchen in der Hand, mit dem er seiner Patientin leicht ans Knie klopfte.
»Es ist Arthritis, stimmt’s, Dr. Masefield?« fragte die Frau, die nicht einmal Hut und Handschuhe abgelegt hatte.
Joshua richtete sich auf. »Die Symptome sind alle da, Mrs. Creighton. Aber keine Sorge, ich habe etwas, das hilft. – Mrs. Wiggen, würden Sie mir bitte die Tabletten für Mrs. Creighton geben.«
Samantha ging zum Schrank, nahm die Flasche heraus und drückte sie ihm in die ausgestreckte Hand.
»Danke«, murmelte er, blickte kurz auf und starrte sie verblüfft an. »Miss Hargrave!«
Sie lächelte befangen. »Ich habe Ferien, Dr. Masefield.«
Er betrachtete sie beinahe unfreundlich. »Sie sind dünn geworden.«
Samantha sah an sich hinunter. Ihr Kleid saß wirklich auffallend lose, Folge der wochenlangen Hungerkur zur Überwindung des Errötens.
»Ist etwas nicht in Ordnung, daß Sie keinen Appetit haben?«
»Ich –« Sein unwirscher Ton verwirrte sie. Sie kam sich vor wie ein gescholtenes Kind. »Doch, es ist alles in Ordnung, Mr. Masefield. Ich habe nur –«
Er wandte sich brüsk von ihr ab. »Eine Tablette jeden Abend vor dem Schlafengehen, Mrs. Creighton. Auf keinen Fall mehr.«
»Ja, Herr Doktor.«
Samantha schlüpfte leise aus dem Zimmer. In tiefer Niedergeschlagenheit packte sie in ihrem Zimmer aus. Wenn er sie über Weihnachten nicht hier haben wollte, hätte er ein Telegramm schicken sollen. Samantha bedauerte es schon, daß sie nicht bei Hannah Mallone geblieben war, wo sie willkommen und geschätzt war.
Aber Louisa und Luther trösteten sie am nächsten Tag über die erste Enttäuschung hinweg. Während sie im Pferdeschlitten durch den verschneiten Central Park fuhren, begann Samantha, die Dinge wieder in {153} einem rosigeren Licht zu sehen. Sie durfte Joshua nicht zu hart beurteilen, er hatte wahrhaftig kein leichtes Leben.
Es wurde wieder so, wie es vor ihrer Abreise gewesen war: Sie assistierte ihm in der Praxis und begleitete ihn auf Hausbesuche. Aber nie fragte er nach ihrem Studium oder ihren neuen Freunden, nie äußerte er auch nur das geringste Interesse an ihrem Leben. Joshua blieb so fern und unzugänglich wie er immer gewesen war.
Umso erstaunter war sie, als er an einem Samstag abend zwei Wochen vor Weihnachten bei ihr klopfte.
»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Miss Hargrave? Die Sache ist ziemlich wichtig.«
Sie bat ihn einzutreten, und er setzte sich in einen der Sessel vor dem Feuer.
»Ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten, Miss Hargrave, und weiß ehrlich gesagt nicht recht, wie ich es anfangen soll.« Sie
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