Sturmjahre
Blumenschmuck machten den eisigen Winterabend zur tropischen Nacht, und im feuersprühenden Schmuck der Damen spiegelten sich tausend Lichter aus italienischen Kandelabern. Bedienstete eilten hin und her, um die mehr als sechshundert Gäste, die sich in dem großen Saal eingefunden hatten, zu versorgen.
Joshua führte sie zu einem Palmengarten, wo kleine Tische und Stühle aufgestellt waren, und verschwand, nachdem sie sich gesetzt hatte, in der Menge.
Samantha, die inzwischen die erste Scheu überwunden hatte, sah sich neugierig um. Am meisten interessierten sie die Frauen, die so anders zu sein schienen als sie selbst. Sie hätte gern gewußt, wie sie ihr Leben gestalteten. Alle, gleich, welchen Alters und welcher Körperfülle, waren sie qualvoll eingeschnürt, um dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen: eine Wespentaille und ein voller Busen.
Sie sah Joshua mit zwei Gläsern zurückkommen und bemerkte, daß er hinkte.
Schweigend saßen sie nebeneinander und tranken ab und zu von ihrem Champagner. Joshua schien nicht geneigt, Konversation zu machen. Als die Kapelle auf der Galerie einen Walzer anstimmte, begann Samantha das Herz schneller zu klopfen. Joshua würde doch sicher wenigstens einmal mit ihr tanzen.
Doch während die Kapelle Walzer um Walzer spielte, und immer mehr Paare sich auf der Tanzfläche drehten, wurde Samantha langsam klar, daß sie auf eine Aufforderung von Joshua nicht zu hoffen brauchte.
»Ich glaube, jetzt würde ich doch gern etwas essen«, sagte sie und stellte ihr leeres Glas weg. »Kann ich es mir selbst holen? Ich würde so gern die Tafel sehen.«
{160} Zu ihrer Überraschung erhob er keine Einwände, sondern nickte nur, und sie fragte sich flüchtig, ob er froh war, eine Weile allein sein zu können.
Die Tafel, so lang wie die Wand, an der sie stand, war mit Speisen und Delikatessen überladen, von denen Samantha nicht einmal die Hälfte kannte. Während sie noch ratlos davorstand, sagte neben ihr jemand: »Ich kann das Steak empfehlen.«
Sie schaute auf und begegnete dem lächelnden Blick eines etwa dreißigjährigen Mannes mit warmen braunen Augen.
»Ich kann leider nur das Steak empfehlen«, fügte er hinzu, »weil es so ziemlich das einzige ist, was ich identifizieren kann.«
Samantha lachte und sah wieder auf die üppige Tafel hinunter. »Hoffentlich wird das auch alles gegessen.«
»Bestimmt nicht. Bei solchen Veranstaltungen übt sich der Gast mit Manieren in Zurückhaltung. Aber keine Angst, die Reste wandern genauso wie die Blumen direkt ins Bellevue Krankenhaus.«
Die großen grauen Augen der jungen Frau, die in diesen Kreisen offensichtlich nicht zu Hause war, faszinierten Mark Rawlins. Wer, zum Teufel, war sie, und wo war ihr Begleiter?
»Immer wenn Mrs. Astor einen Ball gibt, fallen die Insassen von Bellevue vor Dankbarkeit auf die Knie. Normalerweise müssen sie nämlich den Fraß, den sie bekommen, direkt von der Tischplatte mit den Fingern essen. Besteck gibt man ihnen nicht. Und es ist wirklich ein Fraß!«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»O doch. Das Bellevue wurde erst neulich von einem Untersuchungsausschuß überprüft, und da stellte sich heraus, daß die Patienten nicht nur mit den Fingern essen müssen, sondern daß es auch im ganzen Haus nicht ein Stück Seife gab.«
Samantha stellte den Teller nieder, den sie sich genommen hatte. »Ich bin eigentlich gar nicht hungrig.«
»Ach, jetzt habe ich Ihnen den Appetit verdorben. Verzeihen Sie mir. Und ich habe mich außerdem wie ein ungehobelter Klotz benommen. Gestatten Sie, daß ich mich selbst vorstelle – Mark Rawlins.«
»Sehr erfreut. Gehören Sie hierher?«
Er starrte sie verblüfft an, dann warf er den Kopf zurück und lachte. »Lieber Himmel, nein!«
Samantha kam sich ein wenig dumm vor. Sie spähte durch den Saal nach Joshua, konnte ihn aber nirgends entdecken.
»Ich bin gewissermaßen als Symbolträger hier«, erklärte Mark Rawlins. »Ich bin einer der armen völlig überarbeiteten und unterbezahlten Ärzte, die Mrs. Astor zu dieser Wohltätigkeitsveranstaltung eingeladen hat.«
{161} In seinem eleganten Cut sah er weder überarbeitet noch unterbezahlt aus. Samantha hatte den Verdacht, daß er sich über sie lustig machte.
»Sie sind Arzt, Sir?«
Er verneigte sich leicht. »Chirurg, ja. Darf ich Sie, da ich so dreist war, mich selbst vorzustellen, um einen Tanz bitten?«
Sie war unschlüssig. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir, aber ich bin in Begleitung
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